Keller, Conrad

Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 12. Februar 1916

Zürich, dℓ. 12. Februar 1916.

Hochverehrter Freund u. Kollege!

Sie feiern inmitten einer recht traurigen Zeit demnächst Ihren 82.Geburtstag u. ich hoffe, dass trotz der erschwerten Postverbindung meine allerherzlichsten Glückwünsche rechtzeitig bei Ihnen eintreffen. Wie ich höre, geht es Ihrer Gesundheit erheblich besser, Sie seien sogar nach Leipzig gereist. Es freut mich dies sehr; ich ersehe auch aus Ihrem neuesten Buche „Ewigkeit“, dessen Zusendung ich Ihnen herzlich verdanke, dass Ihre Auffassung der heutigen Lage etwas optimistischer ist als früher.

Nun, Ihr schwergeprüftes Vaterland, das sich seiner Feinde erwehren muss, macht glänzende Fortschritte u. das deutsche Machtwort gilt heute von Calais bis Wien u. Konstantinopel. Wer hätte so etwas vor 50 Jahren geahnt?

Aber Deutschland hat ein braves Heer u. tüchtige Heerführer. Staatskunst u. Diplomatie haben überraschende || ja geradezu geniale Leistungen aufzuweisen. Es weht bei Ihnen wieder ächt bismarckische Luft. Deutschland muss allerdings furchtbare Opfer bringen u. wir in der Schweiz müssen den Heroismus u. den Opfersinn Ihrer Landsleute aufrichtig bewundern. Aber die ehrliche deutsche Sinnesart wird schliesslich über die unerhört unehrlichen Feinde triumphieren.

Was mich anbetrifft, so geht es mir fortwährend gut. Ich habe in diesem Winter eine grosse Zuhörerschaft u. konnte im Herbst vorigen Jahres mein neues Zoologisches Institut beziehen. Es ist jetzt prächtig eingerichtet.

Schöne u. grosse Räume bergen jetzt auch das reichhaltige Museum für die Phylogenie der Haustiere. Es findet überall Beifall u. wir können heute in Zürich mit Berlin u. London in Wettbewerb treten.

Ich könnte also zufrieden sein, da die Behörden meine Bestrebungen || in erfreulicher Weise unterstützen und doch bin ich nicht frei von Pessimismus, denn düstere Wolken schweben über unserem Heimatlande. Sind wir auch felsenfest überzeugt, dass Deutschland uns eine treue u. durchaus ehrliche Gesinnung bewahrt, so hegen wir Misstrauen gegenüber Frankreich u. Italien. Wir fürchten, dass wir schliesslich auch noch in den Strudel hineingezogen werden. Leider wird die Kluft zwischen der deutschen Schweiz u. der französischen immer grösser u. momentan ist die Stimmung sehr erregt. Es wird offenbar von Paris aus mit allen Mitteln gearbeitet, um unsere französischen Schweizer gegen die deutsche Schweiz zu verhetzen. Es hatte dieses System ja auch Erfolg in Italien, wo 90% des Volkes heute noch den Krieg verwünschen.

Ich fürchte, 1916 wird ein Unglücksjahr. Mag da kommen was da will, so verbleibe ich stetsfort Ihr getreuer Verehrer u. sende Ihnen meine herzlichen Grüsse

Ihr ergebenster

C.Keller

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
12.02.1916
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6787
ID
6787