Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 12. Februar 1915

Zürich, d. 12. Februar 1915.

Hochverehrter Freund!

Sie begehen in diesen Tagen ihren 81. Geburtstag, wozu ich Ihnen meine allerherzlichsten Glückwünsche nach dem lieben Jena sende. Ich hätte allerdings gewünscht, dass Sie diesen Anlass unter anderem Zeitverhältnissen feiern könnten.

Dass Sie es noch miterleben müssen, wie Ihr grosses Vaterland so schwer heimgesucht wird und jetzt sogar um Sein oder Nichtsein ringen muss, ist wirklich bitter.

Auch wir in der neutralen Schweiz leben in banger Sorge. Wir wissen heute noch nicht, ob unser altes Europa mit seiner mühsam erworbenen Kultur in Scherben geschlagen wird oder mit bösen Schrammen davonkommt. Vielleicht brodelt neues Unheil aus || diesem Hexenkessel, um schliesslich auch uns Schweizer in den allgemeinen Strudel hineinzureissen.

Komme was da wolle, so stehen doch unsere innersten Sympathien auf deutscher Seite.

Wir schätzen Deutschland hoch, weil es seine machtvolle Entwicklung u. seinen glänzenden Aufstieg durch ehrliche, solide Arbeit, durch seine moralische Kraft erworben hat. Dabei war uns Deutschland ein ehrlicher Nachbar, dessen Freundschaft aufrichtig war. Das sehen jetzt auch unsere französischen Schweizer ein.

Ehrlich währt am längsten! Freilich hat der geistreiche Mark Twain hinzugefügt, dass man mit dem Schein von Ehrlichkeit oft sechsmal weiter kommt.

Hoffentlich hat er diesmal nicht Recht, || möge endlich die fadenscheinige und heuchlerische Ehrlichkeit jenseits des Kanals die längst verdiente Züchtigung erhalten. Vorläufig haben die deutschen Unterseeboote gute Arbeit gethan!

Sie haben mir verschiedene, sehr liebenswürdige Zusendungen gemacht, für die ich herzlich danke.

Aber lassen Sie sich in Zukunft nicht mehr durch einen Hodler anfechten! Sie haben dem Mann zu viel Ehre erwiesen.

Leider war man in Deutschland zu gutmütig u. hat diesen Maler gross gezogen – wir haben das nie recht begriffen. Wir in der Schweiz betrachten Hodler schon lange als einen ganz dekadenten Künstler, der einst Talent besass, aber seit Jahren zum Schmierer herabgesunken ist. Er hat die grosse Tradition, die Arnold Böcklin geschaffen, wieder gründlich verfuhrwerkt.

Empfangen Sie nochmals meine herzlichsten Wünsche und Grüsse

Ihr alter Freund

C. Keller

Brief Metadaten

ID
6786
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
12.02.1915
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
13,4 x 21,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6786
Zitiervorlage
Keller, Conrad an Haeckel, Ernst; Zürich; 12.02.1915; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_6786