Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 19. Dezember 1910
Zürich, d. 19. Dec. 1910
Hochverehrter Freund!
Für die gütige Zusendung Ihrer Verteidigungsschrift „Sandalion“ sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank. Ich dachte mir, dass Sie Ihren Gegnern gelegentlich die Quittung ausstellen werden u. diese temperamentvolle Weihnachtsgabe wird sehr heilsam wirken. Es sind eben unerbauliche Strömungen in Deutschland, von denen wir glücklicherweise verschont sind. Man hat Sie sehr schlecht behandelt, es war das reinste Kesseltreiben gegen Sie – ein Beweis, wie hoch die Gegner Sie einschätzen müssen. Aber Sie können ja getrost das || Urteil der Geschichte abwarten, und diese ist denn doch gerechter, als man gewöhnlich annimmt.
Zur Beruhigung möchte ich Ihnen sagen, dass ich am letzten Zoologenkongress in Graz recht erfreuliche Wahrnehmungen machte. Ich bin von unserer schweizerischen Regierung dein abgeordnet worden; der Kongress verlief sehr schön u. ich kam mit einer Menge von Fachkollegen zusammen. Man sprach in den einzelnen Gruppen sehr viel von den unerfreulichen Dingen, die Sie in der letzten Zeit erleben mussten.
Aber man hörte nur ein Urteil, das in den lebhaftesten || Sympathien für Sie gipfelte. Die Theilnahme war allgemein und man betonte immer wieder, wie gewaltig viel unsere Wissenschaft Ihnen zu verdanken hat.
Kläffer hat es ja immer gegeben, sie verschwinden ja alle bald genug klanglos von der Bildfläche. Und das mag Ihnen, der Sie uns so viel Bleibendes hinterlassen, wieder zur Genugthuung dienen.
Ich arbeitete an dem grossen Problem der Herkunft unserer europäischen Haustiere u. habe nun eine grössere Monographie, worin namentlich meine Studien auf den griechischen Inseln niedergelegt sind, soeben druckfertig abgeschlossen. Ich hoffe in einigen Monaten Ihnen die Arbeit überreichen zu können. Inzwischen bin ich mit herzlichem Weihnachtsgruss
Ihr alter Freund
C.Keller