Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Paul von Ritter, Jena, 18. August 1887

[Separatdruck aus: Haeckel, Ernst: Grundriss einer Allgemeinen Naturgeschichte der Radiolarien. Zweiter Theil der Monographie der Radiolarien. Berlin 1887, [S. VII f.]

Hochgeehrter Herr Doctor!

Am dritten Mai des Jahres 1886, an welchem Tage ich vor fünfundzwanzig Jahren meine Lehrthätigkeit an der Universität Jena begonnen hatte, überraschten Sie mich durch die hocherfreuliche und ehrenvolle Mittheilung, dass Sie derselben ein sehr bedeutendes Capital zur Förderung phylogenetischer Studien geschenkt und die Verwendung seines jährlichen Rein-Erträgnisses zunächst meinem freien Ermessen übertragen hätten. Mittelst dieser höchst dankenswerthen Stiftung wurde in Jena die erste Professur für Phylogenie gegründet, und ausserdem für das Studium dieser neuen Wissenschaft eine Quelle werthvoller Hülfsmittel eröffnet.

Wenn schon an sich jede junge Wissenschaft durch mancherlei Hindernisse sich Bahn brechen und jedes Hülfsmittel zu ihrer Förderung dankbar begrüssen muss, so ist das in ganz besonderem Maasse bei der Phylogenie der Fall. Denn indem dieselbe die historische Entwickelung des organischen Lebens auf natürlichem Wege erkennen will, stösst sie auf den heftigsten Widerstand der Vorurtheile, welche der Wunderglaube des Mittelalters bis auf unsere Tage erhalten hat.

Die „Paul von Ritter’sche Stiftung für phylogenetische Zoologie“ ist daher nicht bloss als materielle Hülfsquelle, sondern zugleich als moralische Macht für uns von höchstem Werthe, und ihr edelmüthiger Stifter verdient den wärmsten Dank aller aufrichtigen Freunde der natürlichen Wahrheit und der freien Forschung.

Einen kleinen Theil dieses schuldigen Dankes hoffe ich abzutragen, indem ich Ihnen, hochgeehrter Herr Doctor, diese allgemeine Naturgeschichte der Radiolarien widme. Wenn einerseits Ihr Auge sich || an der reizvollen Schönheit ihrer mannichfaltigen Formen erfreut, so wird Sie anderseits der Nachweis des gemeinsamen phylogenetischen Ursprungs interessiren, den ich für diese Tausende vielgestaltiger Lebens-Formen zu führen mich bemüht habe. Gelingt es aber der phylogenetischen Zoologie auf dem Wege der vergleichenden Morphologie für eine so formenreiche grosse Thierklasse die gemeinsame Abstammung von einer einfachen einzelligen Urform nachzuweisen, so darf sie hoffen, auf demselben Wege auch die gemeinsame Descendenz aller Wirbelthiere, mit Inbegriff des Menschen, zu erkennen. Indem die Anthropogenie diese wichtigste aller phylogenetischen Fragen löst, zeigt sie zugleeich, dass die monistische Entwickelungslehre von jetzt an die feste Basis der naturgemässen Weltanschauung bilden muss.

Indem ich in diesem Sinne Ihnen meinen wärmsten Dank wiederhole, bleibe ich

In treuer Verehrung

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel.

Jena, am 18. August 1887.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.08.1887
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 54607
ID
54607