Greil, Alfred

Alfred Greil an Ernst Haeckel, [o. O.], 16. Februar 1914

Eure Exzellenz!

Die Feier des achtzigsten Geburtstages des Begründers der vergleichenden Ontogenie und ihrer stammesgeschichtlichen Wertung läßt uns jene ruhmvolle Schaffensperiode vor nunmehr fast vier Dezennien vergegenwärtigen, in welcher Ernst Haeckel in genialer Konzeption die mit den kargen Untersuchungsmitteln der damaligen Zeit, an beschränktem Materiale erhobenen Befunde aus den grundlegenden ersten Entwicklungsstadien der tierischen Organismen, insbesondere der Wirbeltiere zum monumentalen Gebäude der Gasträatheorie vereinigte und im Sinne des biogenetischen Grundgesetzes zur vollen Geltung brachte. Dieser wissenschaftlichen Großtat war nur HAECKEL fähig, sie blieb dem Zoologen des Jenenser Dioskurenpaares vorbehalten, dessen tiefe Einblicke in den Bau und die Entstehung der Wirbellosen das Verständnis für die Entwicklungsformen der Wirbeltiere erschlossen haben. HAECKEL zeigte, wie die Vielgestaltigkeit und Divergenz der ausgebildeten Formen sich mindert, je weiter die Ontogenese bis zu den ersten Entwicklungszuständen zurückverfolgt wird, wie in den frühen Entwicklungsstadien eine stammesgeschichtlich so bedeutsame prinzipelle Uebereinstimmung besteht und der ontogenetische Erwerb jener Mannigfaltigkeit in den wichtigen Grundzügen auch dem stammesgeschichtlichem Erwerbe entspreche. Dieses einigende und einheitliche Band, welches die Wirbeltiere in den ersten Tagen und Wochen ihrer Entstehung miteinander verknüpft, ist HAECKELS Verdienst; damit waren die fundamentalen Etappen des Bauplanes der Wirbeltiere in großzügiger Weise erschlossen und die wichtigsten Zeichen der Hieroglyphenschrift, welche die jungen Entwicklungsformen höher stehender Wirbeltiere, insbesondere des Menschen darbieten, aufgedeckt. – Seit jener Zeit ist von allen Seiten wertvolles Untersuchungsmaterial zusammengetragen und in vollendeter Technik bearbeitet worden, um die klaffenden Lücken auszufüllen. Viele haben ihre Bausteine ins Gebäude der Gasträatheorie eingefügt und dasselbe wesentlich gestützt – andere wiederum glaubten in kurzsichtiger Art, von irrigen Vorausssetzungen und Vorstellungen befangen, ohne stets den Blick auf das Ganze zu richten und „Eins wie Alles“ zu achten, schwere Einwände gegen die von HAECKEL so genial und prophetisch erschauten Prinzipien erheben zu sollen, indem sie Nebensächlichkeiten kritisierten und in den Vordergrund stellten und das Große, Gemeinsame nicht in seiner vollen Bedeutung erfaßten. So wollen wir heute, nach vierzig Jahren, um HAECKELS Verdienste zu ehren und Unrecht gutzumachen, dem großen Zoologen und Philosophen an seinem achtzigsten Geburtstage in dankbarer Gesinnung die Früchte des Baumes der Erkenntnis vorlegen, den er gepflanzt.

Mit den innigsten Geburtstagswünschen

Ihr in aufrichtiger Verehrung

getreu ergebener

Alfred Greil

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
16.02.1914
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 53385
ID
53385