Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 3. Januar 1891
München d. 3. Jan. 1891
Hochverehrter und lieber Freund!
Zunächst vielen Dank für das schöne Weihnachtsgeschenk, welches Sie mir durch Ihre Praeparate und Ihre Abhandlung gemacht haben. Letztere habe ich mit um so grösserem Interesse gelesen, als ich vollkommen Ihre Ansicht theile, daß die Thiere im Meer keineswegs, wie Hensen annimmt, a gleichmäßig vertheilt sind.
Beim Lesen des Hensen’schen Berichtes || über die Ostseeuntersuchungen hat es mich merkwürdig berührt zu sehen wie ein Scharfsinn auf nebensäüchliche Dinge verschwendet worden ist. Was wollen die Fehler bedeuten, welche durch geeignete Construction der Netze b vermieden werden, gegenüber dem enormen Fehler, daß das Meer als etwas gleichmäßiges angenommen wird. Ich habe diese Einwände seiner Zeit auch Hensen gemacht, als er auf der Berliner Naturforscherversammlung über sein Project vortrug.
Ausserdem kann man den Hensen’schen || Untersuchungen den Einwand machen cui bono?. Wenn es wirklich gelänge festzustellen wie viel Millionen Centner von Eiweiß und anderen Verbindungen in der Meeresfauna und Flora niedergelegt sind, so glaube ich nicht, daß diese Zahl Ausgangspunkt weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen werden könnte. Noch weniger ist an eine praktische Verwerthung zu denken. Nach meiner Ansicht wird die Wissenschaft bei der Planktonexpedition nur dann auf ihre Rechnung kommen, wenn viele interessante und neue Thierformen und Larven gesammelt und gut conservirt worden sind. ||
Mein Assistent Dr. Hofer wird voraussichtlich, Ihrem Beispiel folgend, das rothe Meer zum Ort seiner zoologischen Untersuchungen machen; wenn er ein Reisestipendium erhält, gedenkt er wohl im Lauf des Januar nach Tur am Sinai abzureisenc. Können Sie ihm einige Rathschläge mit auf den Weg geben. Namentlich wäre es für Dr. Hofer wichtig zu erfahren wie er sich am besten mit Spiritus versorgt, ob er ihn von hier mitnimmt oder ob er ihn in Aegypten kauft. Ferner würden Sie ihn sehr zu Dankd verpflichten durch Angaben, in welcher Weise Sie Ihre Corallensammlung verpackt haben. || Sind Sie vielleicht auch orientirt, in welcher Weise man am schnellsten und billigsten von Suez nach Tur kömmt?
Ihre Separatabdrucke habe ich an ihre Adressen befördert, auch habe ich Zittel und Kupffer die Praeparatesammlungen zur Ansicht eingeschickt und zum Ankauf angeboten. Zittel hatte Lust, die Sammlung anzukaufen, hatte jedoch Etats-Sorgen; ich schreibe Ihnen bald Genaueres.
Das Fest haben Papa, meine Familie und ich froh gefeiert. Die beiden Buben || hatten große Freude am Christbaum, der ältere auch volles Verständniß für die Geschenke. Zum e Sylvester-Abend war auch Zittel mit Familie bei uns. Sie werden wohl erfahren haben, daß Zittel’s Tochter, das Sorgenkind, seit 3 Monaten äußerst glücklich verheirathet ist. Ihr Mann, ein junger Staatsanwalt, gilt für einen ganz hervorragenden Juristen.
Bei Oscar war leider die Festesfreude durch Krankheit getrübt. Vierzehn Tage || vor Weihnachten erkrankte seine Frau an einer äußerst schweren Peritonitis; Tage lang schwebte sie in allergrößter Lebensgefahr. Am Weihnachtstag war zwar die Besserung eingetreten, meine Schwägerin aber noch so schwach, daß der Bescheerabend auf Sylvester verschoben werden mußte. Am Sylvester konnte sie zum ersten Male kurze Zeit außer dem Bett auf der Chaiselongue verbringen.
In den letzten Monaten bin ich leider || sehr wenig an die Ausarbeitung meines Lehrbuchs gekommen. Ich habe den Termin seines Erscheinens bis Ende der Sommerferien verschoben. Für dasf freundliche Interesse welches Sie dem heranwachsenden „Embryo“ – oder ist es eine Larve? – entgegenbringen, besten Dank! Zugleich sende ich Ihnen und Ihrer lieben Familie viele viele herzliche Grüße von Ihrem
treu ergebenen
R. Hertwig
Meinen Grüßen schließen sich Frau, Schwiegermutter und Papa an.
a gestr.: so; b gestr.: beding; c korr. aus: abreisen; d korr. aus: dank; e gestr.: Neujahrs; f korr. aus: Ihr