Ernst Haeckel an Eduard Suess, Jena, 8. Februar 1871
Jena 8. Februar 71
Hochverehrter Herr College!
Ihre heute erhaltenen freundlichen Zeilen beehre ich mich sofort zu erwidern. Es ist allerdings richtig, daß ich die angebotene Lehrkanzel der Zoologie an der Universität Wien ausgeschlagen habe, aber erst nach langen Zweifeln und reiflicher Überlegung. Nachdem ich die Berufung (am 23. December vorigen Jahres) erhalten hatte, war ich zuerst zur Annahme derselben sehr geneigt, ja beinahe entschlossen. Ich schrieb in diesem Sinne, am 25. December an Seine Excellenz, Herrn v. Stremayr und theilte demselben die Bedingungen mit, unter denen ich wahrscheinlich die Stelle annehmen würde. || Während ich nun auf die entscheidende Antwort wartete, erhielt ich von mehreren Seiten – und besonders von einem mit den Wiener Universitäts-Verhältnissen genau vertrauten und zuverlässigen Freunde – nähere Auskunft über die mir angebotene Stellung, welche mir die letztere keineswegs so verlockend und wünschenswerth schilderte, als ich sie mir anfänglich vorgestellt hatte. Inzwischen that die hiesige Regierung, welche mir stets in der liberalsten Weise entgegengekommen ist, Alles, um mich an Jena zu fesseln und für den Fall meines Hierbleibens meine Wünsche zu erfüllen. Ich wollte mich jedoch nicht ohne die reiflichste Erwägung aller für und wider || Wien sprechenden Verhältnisse in dieser hochwichtigen, für meine fernere Laufbahn bestimmenden Angelegenheit entscheiden. Ich stand eben im Begriff, mich auch bei Ihnen noch bezüglich einiger Verhältnisse zu erkundigen (wozu mich unser Freund, Professor Zittel in München, aufgefordert hatte), als ich schon von anderer Seite über die betreffenden Umstände nicht gerade befriedigende Nachrichten erhielt.
In dieser Ungewißheit verfloß mehr als ein Monat. Da ich nun hier zur Entscheidung gedrängt wurde, und da ich aus dem Ausbleiben der Wiener Antwort schließen zu müssen glaubte, daß meine dort gestellten Bedingungen keine Aussicht auf Erfüllung hätten, entschloß ich mich endlich, hier zu bleiben und meldete dies Herrn v. Stremayr in einem am 25. Januar abgesandten Briefe. || Kurz darauf – aber leider zu spät – erhielt ich den Bescheid, daß man in Wien meine Wünsche erfüllen wolle. Ich war nun aber leider schon hier gebunden.
Allerdings bleibe ich auch gern hier, da meine hiesige, mir sehr lieb gewordene Stellung viele und eigenthümliche Vorzüge hat, die ich an keiner andern Universität wiederfinde. In anderen Beziehungen würde mir natürlich Wien viel mehr geboten haben. Darin, daß beide Stellungen so sehr verschieden, und eigentlich ganz incommensurabel sind, lag die Schwierigkeit der Wahl.
Ich bedaure aufrichtig, daß ich die mit so viel Entgegenkommen und unter den glänzendsten Bedingungen angebotene Lehrkanzel in Wien auszuschlagen durch noch dringendere Verhältnisse veranlaßt wurde. Indem ich Ihnen für die freundliche Theilnahme, welche sie der Angelegenheit gewidmet haben, meinen freundlichsten Dank sage, bleibe ich in vorzüglicher Verehrung
Ihr ergebenster
Haeckel