Ernst Abbe an den Dekan der Philosophischen Fakultät, Jena, 30. März 1874

Die Abhandlung des Herrn Dr. Frege „Rechnungsoperationen, die sich auf eine Erweiterung des Grössenbegriffes gründen“ betrifft einen Gegenstand von großem und weitreichendem Interesse. Der Verfasser geht auf nichts Geringeres aus als darauf: Begriffe zu construiren, mit deren Hilfe Funktionen veränderlicher Grössen, über ihre analytischen Ausdrücke hinweg, einer directen quantitativen Bestimmung und Vergleichung unterworfen und durch welche gegenüber der Mannigfaltigkeit möglicher Funktionsformen neue Merkmale der Unterscheidung und Ordnung gewonnen werden sollen. Er stellt – sozusagen – eine Genesis der Funktionen auf, indem er in der fortgesetzten Wiederholung irgendwelcher algebraischer oder geometrischer Operation einen Process nachweist, durch welchen alle Functionen auf conforme Weise erzeugt gedacht werden können. Durch eine als Einleitung vorausgeschickte Erörterung || über die allgemeinen Bedingungen für die Anwendung des Grössenbegriffes gewinnt er die Grundlagen für eine Maassbestimmung an jenem recurrirenden Process und für eine Rechnungsform, kraft welcher Functionen in gewissem Sinne als einfache Objecte zu behandeln sind. In Bezug auf den entwickelten Algorithmus deducirt Herr Frege zunächst mehrere ganz allgemeingiltige Gesetze; er leitet sodann Methoden ab, durch welchen derselbe an Functionen einer Variabelen und an solchen von beliebig vielen Variabelen zur Ausführung zu bringen ist; endlich zeigt er in zahlreichen Anwendungen, die theils umfassenden Probleme, theils ganz speciell geplante analytische Aufgaben betreffen, wie diese Functionserweiterung als Hilfsmittel der mathematischen Untersuchung fruchtbar zu machen sei.

Es ist nicht wohl möglich, über die eigentliche Tragweite und die wissenschaftliche Bedeutung der in dieser Arbeit entwickelten Ideen ein endgiltiges Urtheil abzugeben. – Was der Verfasser bietet, ist ohne Zweifel schon so, wie es vorliegt, in hohem Grade beachtenswerth – durch die Neuheit || und Eigentümlichkeit der geltend gemachten Gesichtspunkte, durch den Reichtum an scharfsinnigen Ausführungen und durch die überraschenden Beziehungen zwischen entlegenen Gebieten der Analysis, welche dabei zu Tage treten. Ob aber die Untersuchung des Herrn Frege noch mehr sei als ein kühner und geistreicher Versuch, der sich mit dem gebotenen im wesentlichen erschöpft hat; ob sie den Keim zu einer umfassenden neuen Betrachtungsweise enthalte, die in ihrer vollständigen Durchführung eine dauernde Bedeutung für die mathematische Analysis erlangen würde – wonach zu fragen die Höhe des gesteckten Zieles und die vom Verfasser selbst eröffneten Perspektiven sehr bestimmt herausfordern – darüber kann doch nur eine viel weitergehende und mehr systematische Verfolgung der eingeführten Ideen und die Erprobung ihrer Tragweite an neuen Aufgaben die Entscheidung bringen.

Wie dem aber auch sein mag – was in keinem Falle zweifelhaft bleibt, ist, dass die in Rede stehende Arbeit in allen Stücken die || Signatur wirklicher Originalität und ungewöhnlicher erfinderischer Kraft an sich trägt. In der Fassung des Problems und der Anlage der Untersuchung zeigt sich, dass der Verfasser aus dem Vollen schöpft. Mit der äusserlich etwas aphoristisch gehaltenen, in Wirklichkeit aber durchdachten einleitenden Erörterung sucht er die Reichthümer seiner Betrachtung in der Orientirung über die fundamentalen Probleme der Mathematik. Dabei ist seine Gedanken Bewegung, obwohl dem allgemeinen Zuge nach verwandt mit Speculationen ähnlicher Tendenz, welche namhafte neuere Mathematiker beschäftigt haben, in ihren entscheidenden Wendungen durchaus selbstständig und eigenartig. – In der Entwickelung seiner Idee geht er überall von umfassenden Gesichtspunkten zum Einzelnen herab. Die Art aber, wie im Fortgang der Untersuchung die allgemeinen Gedanken in die mathematische Detailarbeit eingreifen, bekundet die Fähigkeit des Verfassers, sich zu einer ausserordentlichen Höhe der Abstraction zu erheben und dabei seine Begriffe so fest und bestimmt zu halten, dass sie sich noch da als kräftige Handhaben des Denkens erweisen, || wo sie, flüchtig angesehen, schon fast inhaltsleer geworden scheinen. – Auf der anderen Seite sind die zahlreichen mathematischen Entwicklungen, in denen Herr Frege seine Methoden ausarbeitet und an einzelnen Aufgaben anwendet, fast ebenso viele bemerkenswerte Beispiele feiner und scharfsinniger Analysis, welche das specifisch mathematische Talent des Verfassers in nicht weniger günstiges Licht setzen, wie die Komposition des ganzen seine Befähigung zu aufbauender Ideenverbindung. Endlich aber darf auch nicht unerwähnt bleiben die ansehnliche Gelehrsamkeit, die – in der qualificirtesten Form eines durchgearbeiteten und gebrauchsbereiten Wissens – sich documentirt in der Umsicht, mit welcher der Verfasser bei seinen Ausführungen die verschiedenartigsten Themata in den Kreis seiner Erörterung zieht, so wie in der Freiheit und Sicherheit, mit der er, die Hilfsmittel der Analysis seinen Zwecken dienstbar zu machen weiss.

Gegenüber dem bedeutenden Inhalt wird es wenig angemessen sein, in Bezug auf die Form des Gebotenen um Nebendinge zu rechten. Genug also, dass die Darstellung || in der Abhandlung überall klar, bündig und präcis befunden wird und durchweg die vollkommene Herrschaft des Verfassers über die schwierigen Materien, die er behandelt, zu Tage treten lässt.

Jena, März 30, 1874.

Dr. Ernst Abbe

Brief Metadaten

ID
47621
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Institution an
Philosophische Fakultät der Universität Jena
Entstehungsort
Zielort
Datierung
30.03.1874
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Besitzende Institution
Universitätsarchiv Jena
Signatur
UAJ, M 639, 148r-150v
Zitiervorlage
Abbe, Ernst an Haeckel, Ernst; Jena; 30.03.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_47621