Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 6. Januar 1899
Marburg 6. I. 99.
Hochverehrter und geliebter Freund!
Hätt’ ich meinem Herzen gefolgt, so würde ich Ihnen postwendend für Ihren einziglieben Brief gedankt haben. Aber erstens wollte ich nicht, daß Sie gar so bald das Gefühl haben, wieder in Briefschuld versetzt zu sein, zweitens ist ein Brief von Ihnen und dessen Beantwortung etwas viel zu werthvolles, als daß ich nicht trachten müßte, mein Glück darüber zu verlängern. In wirkliche Briefschuld versetzt Sie || übrigens auch dieser verspätete Brief nicht; denn nach meiner schlechten, Ihnen wohlbekannten Gewohnheit, muß nicht erst Brief von Ihnen kommen, damit ich wieder schreibe. Nach einiger Zeit drängt es mich unwiderstehlich dazu. Sie sind für mich etwas Einziges. Niemand hat nur im Entferntesten einen solchen Einfluß auf die Richtung meines Denkens ausgeübt. Ich kann Ihnen nicht helfen: was immer daraus geworden sein mag, es ist Ihr Werk. Und hab’ ich auch nur für mich selbst gewirkt, ich befinde mich wohl dabei. Kein Tag vergeht, an dem ich Ihrer nicht gedenke; denn Ihnen dank’ ich’s, daß ich, gestützt || auf die Überzeugung, daß alles nur so kommen kann, wie die vorhandenen Bedingungen es erheischen, ohne Groll (bei einer bewußten Weltlenkung würde ich rasend) u. ohne Klage mein Schicksal erdulde.
Aber parteiisch bin ich doch. Daß Sie leiden und, was noch schlimmer ist, Ihre Lieben leiden seh’n müssen, läßt mich nicht so kalt. O, wenn das Wünschen nützen könnte, das Neue Jahr brächte Ihnen keinen Kummer. Was Sie von der Abnahme Ihres Gedächtnisses sagen, berührt mich weniger; denn haben Sie auch nur mehr den hundertsten Theil Ihres || früheren Gedächtnisses, so haben Sie doch noch hundertmal mehr davon als der gewöhnliche Mensch und Sie schreiben gewiß noch viel Unvergängliches.
Über unsere Zeit schweige ich. Sie hat nur mehr Sinn für’s Radfahren (gleichviel wohin und worüberhin!) und Ansichtskarten (wenn man’s nur geseh’n hat!) und ich habe dafür keinen Sinn, weil ich nicht mehr weiter kann und immer schlechter sehe. Darum lass’ ich sie alle rennen und schauen, und freue mich kindisch darüber, eine herrliche Zeit des Fortschritts durchlebt zu haben. – Jetzt geben Sie selbst zu, daß dies kein Brief ist, und daß mir das Recht bleibt, noch einmal zu schreiben. Mit tausend Grüßen von meinen Kindern und mir in treuer Dankbarkeit Ihr alter
B. Carneri