Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 17. November 1898
Marburg 17. XI. 98.
Hochverehrter und geliebter Freund!
Mit welchem Interesse ich Ihren Cambridger Vortrag gelesen habe, wissen Sie, ohne daß ich’s erst zu sagen brauche. In der lichtvollen Zusammenstellung alles Entscheidenden sah ich Sie selbst vor mir, und eine besondere Freude bereitete mir der Umstand, daß Sie in England so gesprochen haben, weil es sehr gesund war, die etwaigen Schleier zu zerreißen, die bei Gelegenheit der Bei- || setzung in Westminster gewebt worden sind, und vielleicht doch noch manches Auge trüben. Endlich, last not least, der liebe Gruß der in der Übersendung lag. Seien Sie mir aus dem Grund meiner Seele – unserer Art Seele – bedankt.
Hoffentlich geht es Ihnen und Ihren Lieben gut, und haben Sie eine angenehme Ferienreise gemacht. Meinen Kindern, die Sie herzlichst grüßen, geht es gut, und mein Neffe Gödel-Lannoy, der jetzt hier ist, empfiehlt sich Ihnen bestens.
Mich hat die Geduld noch nicht verlassen; das ist aber auch || alles, was ich über mein Befinden sagen kann. Kaum daß ich noch etwas geh’n kann. Ich werde fort und fort unbehilflicher und die Schmerzen sind schon an der Grenze des Erlaubten; aber die Nächte sind gut und der Appetit unverwüstlich. In Folge dessen sehe ich gar nicht schlecht aus, und zeige ich eigentlich die 77 noch nicht.
Arbeiten kann ich gar nichts, weil ich meine Augen sehr schonen muß. Was || mich in neuester Zeit wieder aufrecht hält, ist Dante. Ich bin auf eine neue Art der Übersetzung gekommen, die zwar, in meinem Alter begonnen, ganz für die Katz’ ist, aber mich so in Anspruch nimmt, daß ich darüber meine Leiden u. die meines armen Österreichs vergesse. Ist auch nicht schön, sed in necessitate diabolus devorat muscas. Entschuldigen Sie meine Schrift damit, daß ich kaum auf’s Papier seh’n darf, und bleiben Sie immer so gut Ihrem unwandelbaren
B. Carneri