Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 23. Dezember 1892
Marburg 23. Dec. 1892.
Geliebter und verehrter Freund!
Vor allem in meiner Kinder wie in meinem Namen: Ihnen und all Ihren Lieben recht glückliche Feiertage und ein besonders gutes neues Jahr!
Mit der Übersendung Ihrer neuesten Schrift, welche mir das Ergebniß Ihrer gesammten Forschung, ich kann wohl sagen, die Quintessenz des heutigen Wissens darlegt, haben Sie mir eine große Freude bereitet. Man kann nicht hinreißender darstellen, und ich sah und hörte Sie wieder, wie Sie im Bösendorfer Saal mit den Sipho-||nophoren mich bekannt machten. Da waren Sie erst mein Lehrer; seither sind Sie mein Freund geworden, und es ist mir dies die werthvollste Errungenschaft meines ganzen Strebens. Sie haben mich auf den richtigen Weg gebracht und mich auf ihm erhalten. Meine Annahme eines unendlich theilbaren Stoffs, mit dessen unendlicher Theilbarkeit eine unendliche Bewegung gegeben ist, und den wir nach seinem Dasein Materie, nach seinem Wirken Kraft nennen, geräth mit keiner Ihrer Annahmen in Widerspruch. Das macht mich selig. Nur den Geist anlangend komme ich Ihnen nicht ganz nach. Da dies || aber an der Hauptsache nichts ändert und mehr zu dem gehört, was der Italiener fioritura nennt (dazu möchte ich auch Ihren Gott rechnen, Sie gottlosester aller Glaubensbekenner!); so ist es ohne Belang. Sie müßten es fühlen, wie innig ich Ihnen in diesem Moment im Geiste die Hand drücke. Nochmals für Broschüre, Widmung u. Brief tausend Dank.
Im April dürfte ich in Wien – immer Hôtel Meissl – sein. Setzen Sie mich in den Stand, Ihnen im März Nachricht zu geben, so wissen Sie, wo ich bin. Ich schließe, damit Sie zu den Feiertagen diesen Gruß haben Ihres unwandelbar dankbar ergebenen
B. Carneri ||
Sagen muß ich’s doch, daß die Weise, in der Sie mich nennen, mich beschämt hat. Bleiben Sie mir immer so gut! Für’s Leben
Ihr
B. Ci.