Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 30. Oktober 1892

Marburg 30. Oct. 1892.

Geliebter und verehrter Freund!

Die Übersendung Ihrer letzten Riesenrede mit dem Poststempel Jena hat mir gesagt, daß Sie wieder zu Hause sind. Nur weil ich Sie einige Tage ruhig aufathmen lassen wollte, habe ich Ihnen das: Glückliche Rückkehr! das ich Ihnen zugerufen, nicht gleich schriftlich übermittelt. Kann ich mir’s doch nur zu leicht vorstellen, was für eine Masse rückständiger Arbeit Sie vorgefunden haben mögen. Länger halte ich’s aber nicht aus, Ihnen zu sagen, daß Ihre Rede rein hinreißend ist.

Daß ich in Einem Stück noch immer der alte, hartgesottene Ungläubige || bin, erwarten Sie gewiß nicht anders. Betreffs Ihres Gottesbegriffs könnte ich noch mit mir reden lassen; aber das denkende Atom bringe ich in meinen harten Schädel nicht hinein. Kann ohne die betreffenden Organe gedacht werden, dann haben die Spiritisten Recht; und dafür, daß diese nicht Recht haben, lasse ich mich in ganz kleine Stücke zusammenhauen. Darauf werden Sie erwiedern [!]: „Wer sagt Ihnen denn, daß da ohne die betreffenden Organe gedacht wird? Uns fehlen nur die Mittel, sie wahrzunehmen. Veni et vide! Der die einzelligen Wesen bei der Arbeit sieht, kann nicht länger zweifeln.“ Könnte ich, heute noch machte ich mich auf den Weg in Ihr Laboratorium. Fritzi, die Sie mit Richard herzlich grüßt, würde mir zureden, denn sie steht von jeher auf || Seite der Ameisen und stimmt Ihrer Rede vollinhaltlich zu. Aber ich bin immobiler als je, und es bleibt nur übrig, daß Sie im kommenden Jahre in der Drau oder im Wörthersee mir den Kopf waschen. Ich sehe ja meine ganze Niederträchtigkeit ein. Unter den Ethikern, welche die Entwicklungslehre ernst nehmen, weisen Sie mir einen Platz ein, daß ich beim Lesen der betreffenden Stelle factisch das Blut mir gegen die Wangen schießen fühlte; und noch mache ich Ihnen Opposition, Ihnen, dem ich vor allem es verdanke, daß mir die Schuppen von den Augen gefallen sind! Seien Sie nachsichtig und bleiben Sie mir gut. Kommen Sie das nächste Jahr. Vielleicht geht’s mündlich; und geht’s auch mündlich nicht: der Wörthersee ist bei mei- || nen Kindern so schön, daß Sie über meinen Starrsinn ein Auge zudrücken werden.

Meinen in die schottischen Gewässer Ihnen nachgesendeten Brief haben Sie wohl erhalten. Mir ist, als hätte ich ihm ein paar Artikel a beigelegt. Da ich aber nicht mich erinnern kann, was es war, lasse ich diesen ohne Beilage abgehen, um Ihnen nicht am Ende zweimal dasselbe zu schicken. Sollte Ihnen jene Sendung nicht zugekommen sein, so danke ich Ihnen nochmals für die freundliche Karte von der Insel Skye. Hoffentlich hat die Plankton Fischerei Sie recht befriedigt und haben Sie Ihre Lieben wohlauf angetroffen. Unsere Kranke befindet sich erträglicher, meinen Kindern geht’s – unberufen – gut, und mir ganz genügend für meine Bedürfnisse. Solang ich arbeiten kann, bin ich ein ganz zufriedener Mensch. Zu Ihrer wirklich riesigen Rede – Haeckel pur sang – gratulirt Ihnen von Herzen Ihr treu ergebener

B. Carneri

a gestr.: nachges

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.10.1892
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4670
ID
4670