Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 12. April 1892

Marburg 12. April 1892.

Abends.

Geliebter und verehrter Freund!

Vor allem: Möchten Sie mit Ihrem theuern Reconvalescenten möglichst glücklich in der herrlichen Riviera angekommen sein, und Sonne und Seeluft das Ihrige thun, damit der Zweck der Reise voll erreicht werde! Daß ich Ihre liebe Karte aus Frankfurt am Main für die ich Ihnen nicht genug danken kann, erst heute beantworte, hat allein darin seinen Grund, daß ich hoffte, Ihnen die Berliner Naturwissen- || schaftliche Wochenschrift senden zu können mit einem Artikel von mir, in welchem ich dem Grafen Zedlitz-Trützschler eins über’s Gesicht gebe und einen Dr Jordan, der in der unverschämtesten Weise über den Materialismus herfällt, gebührend abführe. Aber die Berliner Gelehrten sind voller Rücksichten. Am 14. März habe ich meinen Artikel abgesendet. Gleich abgedruckt hätte er doppelten Werth gehabt; und heute ist er noch nicht erschienen, obwohl der Redacteur, bei dem ich mich beklagt, seinen Liberalismus betheuernd, mir die Versicherung gegeben, den Artikel zu bringen, und mir, falls Dr Jordan antworten sollte, den Raum zu einer Erwiederung [!] frei zu halten. Geduld! Der Mann kommt mir nicht || aus. Und jetzt gilt’s auch, mehr denn je, zusammen zu halten und den Rückschrittlern die Stirne zu bieten.

Die Hoffnung, Sie wiederzusehen, macht mich glücklich. Ende April – wie ich den Tag meiner Abreise weiß, theile ich ihn Ihnen mit – fahre ich auf 3–4 Wochen nach Wien. Sie müssen das wissen für den Fall, daß Sie dort durchreisen sollten. Im August bringe ich ein paar Wochen bei meinen Kindern am Wörthersee zu. Vielleicht sehen wir uns dort; sonst hier. Weiß ich, wo ein paar Zeilen Sie finden, so werden Sie immer wissen, wo Sie mich finden.

Mit höchster Spannung sehe ich Ihrem Urtheil über Weismann’s neuestes Buch entgegen. Mir ist, als hätte ich Sie zwanzig Jahre nicht gesehen. Noch immer meine ich, daß Weismann’s || Theorie das nicht ausschließt, was für mich Anfang und Ende der dysteleologischen Weltanschauung, Sein oder Nichtsein Darwin’s ist: daß schließlich die äußeren Bedingungen das Entscheidende sind.

Nächstens erhalten Sie die Besprechung zweier merkwürdiger Bücher. Meine ungarischen Lieder und Balladen sind Ihnen hoffentlich zugekommen. Ich kann sie loben, denn nicht Ein Gedanke, nicht Ein Gefühl, nicht Eine Wendung ist von mir: sie gehören zum Reizendsten, was ich je gelesen habe.

Meinen Kindern, die Sie herzlichst grüßen, geht es gut, mir – für meine Bedürfnisse – ganz genügend. Nochmals besten Erfolg von der herrlichen Riviera! Bleiben Sie mir immer so gut. Es gehört dies zu dem Schönsten, das dieses Leben bietet

Ihrem

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
12.04.1892
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4666
ID
4666