Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 23. November 1889
Marburg 23. Nov. 1889.
Hochverehrter und geliebter Freund!
Als mir die neue Auflage Ihrer Schöpfungsgeschichte zukam, wollte ich mit umgehender Post Ihnen danken. Doch ich hatte eben nichts in der Arbeit, und da faßte mich’s ganz unwiderstehlich, das Buch von Anfang bis zu Ende wieder zu lesen, mich ganz wieder hinein zu leben. Und so ist es wieder geschehen. Es ist das dritte Mal gewesen. Wie die erste und dritte, habe ich die achte Auflage ganz in mich aufgenommen, und kann Ihnen für den großen Genuß, wie für die reiche Belehrung, nicht genug danken.
Was ich mir gar nicht vorstellen kann, ist, wo Sie die Zeit hergenommen haben zu einer solchen Erweiterung des Werkes? Es ist nahezu um ein Drittel stärker || als die dritte Auflage und von derselben, unverwüstlichen Frische der Darstellung durchweht. Aus ganzer Seele drücke ich Ihnen für dieses unvergleichlich schöne Geschenk die Hand. Es hat mich verjüngt d. h. ganz zurückversetzt in eine Zeit, in der ich Wildhaus noch mein nannte und, trotz meiner Leiden, noch nichts vom Alter wußte.
Tief gerührt hat mich der Ort, an dem Sie meiner gedenken. Das verdanke ich wohl nur Ihrer Freundschaft. Denn was habe ich für die eigentliche Entwicklungslehre geleistet? Das einzige Verdienst, das ich für mich beanspruchen kann, ist, die letzten Consequenzen der Entwicklungslehre zu acceptiren, || und von der aus für eine echte Sittlichkeit einzustehen. Mir ist es ein lieber Gedanke, daß mein letztes Buch Sie freuen wird.
Noch bin ich aber weit davon entfernt, denn das Buch hat mein Pult nicht verlassen. Ich habe mich entschlossen, ehe ich an Emil Strauss mich wende, noch Ein Mal an Schweizerbart zu schreiben. Der ist wahrscheinlich wieder auf Reisen; denn noch habe ich keine Antwort. Es versetzt Sie dennoch auch dieses Blatt noch nicht in neuerliche Briefschuld. Erst von dem Tag an, an welchem || ich Ihnen sage: mein Manuscript ist an Mann gebracht, – erwarte ich wieder einen Gruß von Ihnen.
Am 1. Dezember bin ich wieder in Wien, aber nur für vierzehn Tage, denke ich. Dann dürfte eine Unterbrechung von 4–6 Wochen eintreten, und erst von Ende Jänner an dürfte ich auf längere Zeit, vielleicht bis zum Juni nach Wien gehen.
Und nun seien Sie mir vom Grund des Herzens gegrüßt und bleiben Sie immer so gut
Ihrem
treuergebenen
B. Carneri