Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg, 10. Juni 1889

Marburg 10. Juni 1889.

Geliebter und verehrter Freund!

Ihren herzlichen Kartengruß habe ich seinerzeit nach Rom beantwortet. Vielleicht haben Sie den Brief erhalten. Ihre heute eingetroffene Adresse an Neu-Rom, für die ich Ihnen aus ganzer Seele danke und die ich mit Begeisterung gelesen habe, sehe ich aber nicht als eine Antwort auf diesen Brief an. Für mich ist sie – wenn auch nicht beabsichtigt – die Antwort auf einen andern Brief dessentwegen ich mir schon viel Skrupel gemacht habe. In zwei Stücken war er gewiß un-||geschickt. Er war die Antwort auf den entsetzlichen Verlust, der Sie in Potsdam getroffen und war von einem kleinen Essay begleitet, über den ich Ihre u. Preyer’s Ansicht zu hören wünschte. Es ist dumm, so bald nach einem solchen Schlag mit so etwas zu kommen. Allein gegen den Schmerz kenne ich nur Arbeit und da Sie darüber wie ich denken, so war das gewiß nicht der Grund, aus dem der Brief unbeantwortet geblieben ist.

Das Zweite ist, daß ich so unartig war, das was Sie, und auch mir aus der Seele, über unseren unglücklichen Kronprinzen geschrieben hatten, ganz unbeantwortet || zu lassen. Ich hätte gern Verläßliches über dessen Ende geschrieben und konnte es nicht, wie ich es heute nicht kann, weil noch immer neue Gerüchte auftauchen. Die ganze Wahrheit wird man auch vielleicht nie erfahren, wie auch das Volk den Gedanken einer Ermordung nie aufgeben wird, weil es den Selbstmord in solcher Lage nicht begreifen kann. Ich bin vom Selbstmord überzeugt, weil dieser für den Hof, bei dessen Anschauungen u. der Kirche gegenüber, das Schwerste einzugestehen war. Doch auch diese meine Unterlassung kann nicht der Grund gewesen sein, aus dem jener Brief, wenn Sie – er war eingeschrieben – überhaupt ihn erhalten haben, bis heute unbeantwortet ist. Ich denke, Sie || haben den Aufsatz, weil Sie eben an der Abreise waren, bis zu Ihrer Rückkehr liegen lassen, dann Preyer gegeben, u. von ihm noch nicht zurück erhalten. Wie sehr ich das bei der Art, in der Sie beide mit Arbeit überlastet sind, begreife, beweist Ihnen mein Schweigen. Es wäre mir nicht eingefallen, ungeduldig darüber zu werden.

Was mich heute bestimmt, darauf zurückzukommen, ist Ihre, in der in der Bruno-Adresse niedergelegte Anschauung über die beseelte Materie. Sie können sich eben die natürliche Schöpfung nicht anders erklären u. das ist für mich, da ich Ihre Naturkenntnisse als riesige verehre, der schwerste Schlag, weil ich nicht im || Stande bin, einen bewußten oder auch nur empfindenden Stoff zu denken. Ihm kann ich nur Anziehung u. Abstoßung zuschreiben; Empfindung giebt’s erst mit der Organisirung und der Geist beginnt erst beim Menschen. Die Übergänge kann ich mir alle vorstellen; aber zu Goethe’s: die Materie ist nie ohne Geist, – worauf ich einst geschworen, kann ich mich nicht mehr bekennen. Ich bin auch überzeugt, daß dieser Satz fallen wird, und eher, als dazu mich zu bekennen, ließe ich mich braten.

Nicht ärgern! Es kann ja Beschränktheit sein; aber ich kann nicht und bin heute noch der Ansicht, daß jener kleine Essay zu einer Brücke zwischen uns gestaltet werden könnte. ||

Ich schreibe in rasender Eile, damit dieser Brief noch heute abgehe, und Ihnen sage, daß soeben auch Fritzi Ihre Adresse gelesen, die auf sie den tiefsten Eindruck gemacht hat. Sie grüßt Sie in alter Herzlichkeit. Ein paar Wochen war sie jetzt hier, während ihr Mann bei den Maneuvres in Pola war. In ein paar Tagen kommt er hier durch und nimmt sie mit.

Beiliegend sende ich Ihnen meine Interpellation, die der Ministerpräsident zum großen Ärgerniß unserer Clericalen ganz gut beant-|| wortet hat, und meine Budgetrede, deren letzter Theil Ihnen gewiß recht ist.

Und damit grüße ich Sie, so aufrichtig Sie verehrend, als ich Sie glühend liebe. Bleiben Sie immer so gut

Ihrem

treu ergebenen

B. Carneri

a eingef. von Haeckels Hand: „Bewußtsein und Empfindung“.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
10.06.1889
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4646
ID
4646