Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Graz, 1. Januar 1885

Graz 1. Jänner 1885.

Hochverehrter und geliebter Freund!

Lange habe ich geschwiegen, aber oft haben wir Ihnen gedacht, viel von Ihnen gesprochen, und mein erster Brief im neuen Jahr ist an Sie gerichtet. Ich wüßte, in der That, das Jahr nicht besser und in einer mir erfreulicheren Weise zu beginnen. Daß ich Ihnen und all Ihren Lieben alles erdenklich Liebe, Gute und Schöne wünsche, wissen Sie, sowie daß es nicht nur im Anbeginn, sondern jeden Tag des Jahres geschieht. So die Götter wollen, || treffen diese Zeilen Sie alle im besten Wohlsein und gewohnter Heiterkeit an. Fritzi ist – unberufen – frisch wie ein Hirscherl, und mir geht’s für meine Bedürfnisse gut genug. Wir leben hier ganz nach unserem Geschmack, und am 18. dieses fahren wir wieder nach Wien zurück, wo aber dies Jahr, wie es scheint, der Reichsrath schon halben März geschlossen werden wird. Die Reaction schreitet vorwärts, selbstverständlich nach hinten, und wenn es Eines giebt, das ihr Widerstand leisten wird bis zur Wiederkehr besserer Zeiten, so ist es die Wissenschaft, obwohl auch da kein Mangel wäre an Leuten, || welche am liebsten die Erde wieder zum Stehen brächten. Es geht aber nicht.

Die Zeit über bin ich sehr fleißig gewesen, und in den ersten Monaten dieses Jahres sende ich Ihnen drei kleine Abhandlungen: Zur Geschichte der Moral, Leslie Stephen und Der Werth des Denkens, durch welche mein Sittlichkeitsbegriff zum Abschluß gelangt. Damit habe ich 24 selbstständige, dem Geist nach aber innigst zusammenhängende Essays, die ich dann gesammelt in einem Band herausgeben möchte.

Unsern armen Deubler haben wir verloren, u. Prof. Dodel-Port || in Zürich wird ein Buch über ihn herausgeben. Er hat sich wohl auch schon an Sie gewendet betreffs der Briefe, die Sie von Deubler besitzen? Mir ist leider der interessanteste verloren gegangen. Es hatten gar so viel ihn lesen wollen! Endlich ist er an einen gekommen, der ihn nicht zurückgeben wollte, und wer der Unglückliche gewesen sein mag, ist nicht mehr heraus zu bringen.

Und nun leben Sie recht, recht wohl, geliebter Freund, seien Sie von uns allen herzlichst gegrüßt und bleiben Sie immer gut Ihrem

treuergebenen

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
01.01.1885
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4628
ID
4628