Eduard Rieder an Ernst Haeckel, Oranienburg, 22. Dezember 1908
Oranienburg, den 22.XII.08
Hochverehrter Herr Professor!
Unwiederstehlich sehr ich mich gedrängt, diese Zeilen an Sie zu richten, nur dürfen Sie nicht böse sein, daß ich, unbedeutender Mensch, Sie dadurch um einen Teil Ihrer kostbaren Zeit bringe. In letzter Zeit fand hier in Oranienburg ein vom Keplerbund veranstalteter Vortrag statt, in welchem Sie der Vorsitzende der Ortsgruppe dieses Bundes, Lehrer Rehberg, der Fälschung beschuldigte. || „Häckels Embryologie wäre gefälscht“, so ungefähr drückte sich dieser Herr aus. Auch sonst war der Vortrag lediglich eine kühne Verleugnung moderner Naturwissenschaft und Forschung. ||
Daß ich, soweit ich vermochte, energisch Protest erhob, dürfen Sie mir glauben, nicht nur als Mitglied des Deutschen Monistenbundes, sondern auch als ehrlich denkender Mensch.
Heute nun, im Morgenblatt vom 22. des Berliner Lokalanzeigers, lese ich, daß Dr Braß, jener „räudige“ Wortführer des Keplerbundes, seine Anschuldigungen in Wort und Bild zu beweisen versucht. || (: der betreffende Zeitungsausschnitt liegt hier bei :)
Wir, Mitglieder des Deutschen Monistenbundes, können und dürfen hierzu nicht schweigen, wir müssen mit allem Vertrauen an unserem hochverehrten greisen Führer hängen. Mit tiefem Schmerz würde es mich erfüllen wenn Dr Braß recht behielte, es wäre ein Schlag für unsere ganze Sache!
Doch Professor Haeckel wird sich zu wehren verstehen, er wird zeigen daß dieser Angriff nur der Ausfluß gehässiger Verleumdung ist.
Wir aber stehen treu zu Ihnen und glauben nicht, daß der Mann, dessen || freies, durchgeistigtes, ehrliches Gelehrtenantlitz uns Wahrhaftigkeit verbürgt, einer so unerhörten Tat fähig wäre.
Zum Schlusse nehmen Sie noch meine innigsten und aufrichtigsten Wintersonnwendsfeierwünsche entgegen und zeichne ich mit dem Ausdrucke der unwandelbaren Verehrung
Eduard Rieder, Techniker
Oranienburg bei Berlin, Bernaustr. 2.