Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Schloss Wildhaus, 15. August 1880

Wildhaus, 15. Aug. 1880.

Mein hochverehrter Herr und Freund!

Wie oft habe ich seit dem letzten mit Ihnen gewechselten Briefe an Sie gedacht, und wie gern hätte ich manchmal an Sie geschrieben! Doch ich hatte mir fest vorgenommen, nicht den leisesten Raub an Ihrer Zeit zu begehen, ehe ich nicht in der Lage wäre, Ihnen etwas Bestimmtes über mein Buch zu sagen. Bis zu seinem Erscheinen handelt sich’s endlich nur mehr um Wochen, denn ich erwarte dieser Tage die erste Correctur des letzten Bogens, deren 28 geworden sind. Hätte ich nur etwas mehr || freie Zeit! Im vorvorigen Sommer war ich knapp drei Monate zu Hause. Da habe ich denn das Ganze in einem Athem niedergeschmiert, und es ist hier liegen geblieben, bis der vorige Sommer und wieder nur auf drei Monate mich hierherbrachte. Sie haben aber genügt, damit ich es überarbeite, und dabei zu einem guten Dritttheil neu mache. Dann nahm ich es mit nach Wien, ließ es abschreiben, wobei die Correctur der Abschrift zu einer letzten Feile wurde, welcher als allerletzte Feile die Correctur des Drucks folgte. Kurz, halben September ungefähr wird das Buch versendet.

Ich sende es Ihnen mit Freuden, weil, wenn auch Manches Ihnen nicht genügen || wird, doch nichts so darin vorkommen wird, das mit Ihren Auffassungen in Widerspruch steht. Wenn etwas uns noch trennt, so ist es die Gränze dessen, was wir Function nennen. Wenn Sie nur Zeit finden, das Ganze, nicht blos den psychologischen Teil, zu lesen! Der Monismus ist widerspruchlos durchgeführt, und Sie werden zufrieden sein mit der Entschiedenheit in der ich mich, den Virchows, Ulrici’s u. s. w. gegenüber, des modernen Menschen annehme.

Der Titel des Buches lautet einfach: Grundlegung der Ethik. Ich zeige, was ohne Vorsehung, ohne Seele und ohne freien Willen an Sittlichkeit möglich, und daß diese Sittlichkeit eine ganz ehrenwerthe ist. Es ist unglaublich, aber es ist so: selbst Männer der || Wissenschaft opponiren dem Darwinismus hauptsächlich darum, weil es Ihnen undenkbar ist, auf die Würde zu verzichten, mit welcher der pfäffische Tugendbegriff die menschliche Erscheinung verklärt.

Sind Sie nicht in Jena, so werden Ihnen diese Zeilen gewiß nachgesendet. Wo sind Sie? Wohin soll ich das Buch schicken lassen? Führt Sie in diesen Ferien Ihr Weg an mir vorüber? Gleich nach Schluß des Reichsraths mußte ich zum Landtag nach Gratz, und von dort als Geschworener nach Cilli. Erst seit ein paar Tagen bin ich ganz hier und bleibe bis halben October. Wie schön wäre es, wenn Sie ein paar Tage hier Rast halten könnten! Hoffentlich treffen Sie diese Zeilen in bester Gesundheit an! Mir geht es gar nicht gut; allein ich gebe nicht auf, und so geht es mir besser als manchem Gesunden.

In aufrichtigster Verehrung und Anhänglichkeit

Ihr dankbar ergebener

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
15.08.1880
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4602
ID
4602