Ernst Haeckel an Charlotte Haeckel, Triest, 26. April 1877
Triest 26 April 77
Donnerstag Nachmittags 5 Uhr
Liebste Mutter!
Vor 1 Stunde bin ich glücklich hier wieder eingetroffen und habe auf dem sicheren Boden des europäischen Continents wieder festen Fuß gefaßt. Dienstag Nachmittag 4 Uhr fuhr ich von Corfu in strömendem Regen ab. Die folgende Nacht (bei starkem Cirocco) war stürmisch und sehr bewegt. Gestern und heute dagegen schönstes Wetter, bei frischem Nordwind.
Die Seefahrt dauerte gerade 48 Stunden. Morgen bleibe ich nun noch in Triest. Morgen Abend 10 Uhr fahre ich mit der Eisenbahn weiter, nach Wien, Dresden, und hoffe Sonntag Abend 8½ Uhr wohlbehalten in Jena einzutreffen. Dienstag 1. Mai werde ich meine Vorlesungen wieder beginnen. ||
Ich habe von der schönen Plankton-Insel Corfu eine Fülle von schönen Eindrücken mitgenommen. Unter den vielen schönen Inseln des Mittelmeers, die ich nun kenne, nimmt sie in Bezug auf Fülle und Üppigkeit der Vegetation den ersten Rang ein. Der malerische Charakter ist ganz idyllisch. Der Aufenthalt in dem guten Hôtel Bella Venezia und die Gesellschaft der österreichischen Herzogs-Familie war ganz behaglich. Ganz besonders hat aber die geistliche Aufnahme bei der ebenso liebenswürdigen als gebildeten Familie Fels dazu beigetragen, mich auf Corfu rasch heimisch zu machen.
Der alte Consul und seine Frau wetteiferten an Freundlichkeiten mit ihrem Sohn und dessen Frau, sowie mit dem Schwager Spenglin u. dessen Familie. ||
Auch die 6 tägige Excursion nach Cephaloniaa war sehr befriedigend. Meine zoologischen Sammlungen bringe ich in drei Kisten zurück, 8 große und viele kleine Gläser voll, zum Theil recht hübsche und seltene Sachen, die mir lange Zeit zu thun geben werden. Meine beiden Skizzenbücher sind fast voll geworden. Ich habe im Aquarell Malen nach der Natur befriedigende Fortschritte gemacht und denke nun etwas eifriger noch in der Technik desselben mich auszubilden; wahrscheinlich im Atelier des Malers Preller in Weimar, zudem ich im Sommer öfter herüber fahren will. Ich habe an diesen Skizzen, wenn Sie auch unvollkommen sind, doch die schönsten Erinnerungen. ||
In 3 Wochen hoffe ich, liebste Mutter, Dir mit der ganzen Familie einen Besuch abzustatten und möchte Dich dann auf der Rückreise gleich mit nach Jena nehmen. Ich denke Du bleibst dann wenigstens Juni bei uns.
Ich freue mich sehr, sehr, Dich wiederzusehen und Dir zu erzählen. Daß Du eine andere Wohnung genommen, ist mir eine große Beruhigung. Bei Carl geht es hoffentlich gut. Grüße Alle herzlich. Wird nicht auch Tante Bertha zu Pfingsten nach Potsdam kommen?
– Körperlich und geistig ist mir die Reise ausgezeichnet bekommen. Ich habe über 30 Seebäder genommen. Hoffentlich höre ich in Jena recht Gutes von Euch Lieben Allen!
Mit herzlichsten Grüßen
Dein treuer Ernst
a korr. aus: Cephalophonia