Karl Franz (Dekan der Medizinischen Fakultät) an Ernst Haeckel, Jena, 8. Dezember 1907

Medizinische Fakultät

der

Universität Jena

Der Dekan

Jena, den 8. Dezember 1907

Eurer Exzellenz

spreche ich im Namen der medicinischen Fakultät den verbindlichen Dank aus für das ihr durch Schreiben vom 16. vorigen Monats bekundete warme Interesse.

Die Agitation der „Naturheilvereine“ für die Errichtung eines Lehrstuhles für physikalisch-diätetische Therapie („Naturheilkunde”) oder, wie es in der neuesten Petition offenkundiger in umgekehrter Wortstellung heisst, für Naturheilkunde (physikalisch-diätetische Therapie) hat die medicinische Fakultät oder einzelne ihrer Mitglieder schon zu wiederholten Malen beschäftigt.

Aus Anlass einer Ende 1902 an den Landtag gerichteten Petition des „Vereins für Gesundheitspflege und naturgemässe Heilweise zu Stadt Sulza“ um Errichtung eines „besonderen Lehrstuhles für das physikalisch-diätetische Heilverfahren“ wurde die Fakultät vom Departement des Cultus zu einer gutachtlichen Aeusserung aufgefordert. In diesem Gutachten verwahrte sich die Fakultät unter der Anführung der Gründe gegen die Unterstützung der sogenannten „Naturheilkunde“ und erklärte sich gegen die Errichtung eines besonderen || Lehrstuhles unter Hinweis darauf, dass den Bedürfnissen der Kranken wie der Medizinstudirenden in Bezug auf das physikalisch-diätetische Heilverfahren – allerdings nicht im Sinne der Naturheilkunde – zur Zeit in Jena genügend Rechnung getragen werde. Es wurde aber in dem Gutachten hinzugefügt, dass die Fakultät es mit Freuden begrüssen würde, wenn für die Vervollständigung der Einrichtung für physikalische Heilmethoden reichere Mittel zur Verfügung gestellt werden könnten.

Die erwähnte Petition des Sulzaer Vereins blieb ohne Erfolg.

Darauf richtete im Jahre 1906 der „Verband der deutschen Aerztevereine für physikalisch-diätetische Therapie (Naturheilkunde und -lehre),“ unterzeichnet von dem Naturheilarzt und Impfgegner Dr. Böhm in Weimar eine zweite Petition gleichen Inhalts an die Landtage der Thüringischen Staaten.

Aus Anlass dieser Petition wurde der Director der medicinischen Klinik beauftragt darüber zu berichten, welche Einrichtungen und Apparate zur besseren Ausübung der physikalisch-mechanischen Therapie an den Landeskliniken zu beschaffen seien. Für die von dem genannten Direktor im || Einvernehmen mit dem hiesigen Privatdozenten für Orthopädie beantragten Apparate und die Anstellung einer geschulten Hilfsperson wurde von der Regierung und dem Weimarischen Landtage, Anfangs 1907, eine grössere Summe bewilligt. In dem Berichte des Direktors der medicinischen Klinik wurden die gegen den hiesigen medicinischen Unterricht von den Naturheilvereinen erhobenen Vorwürfe als unberechtigt zurückgewiesen, und die Errichtung einer Poliklinik und eines besonderen Lehrstuhles für physikalisch-diätetische Therapie für unnötig erklärt.

Gegenwärtig wird den Thüringischen Landtagen eine abermalige „Petition der Thüringer Bundesgruppe der Vereine für naturgemässe Lebens- und Heilweise “um Errichtung eines Lehrstuhles für Naturheillehre (sic!) an der Thür. Landesuniversität Jena” unterbreitet.

Die darüber bereits im Meiningischen Landtage gepflogenen Unterhandlungen liessen erkennen, dass die Naturheilvereine bei vielen Abgeordneten auf Unterstützung rechnen können.

Aehnliches wird man voraussichtlich in den anderen Thür. Landtagen – auch in Weimar – beobachten können; auch die Vorstände der Krankenkassen streben in ihrer Mehrheit die Anstellung von Naturärzten an. || Unsere Fakultät ist sich angesichts der immer dreister hervortretenden Agitation der Naturheiler, die sich versteckt oder offenkundig, in ihrem Endziele gegen die „Schulmedizin” d. h. gegen die wissenschaftliche Medizin richtet, und der aus diesen Laienbestrebungen drohenden Gefahr wohl bewusst. Sie ist entschlossen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln der unwissenschaftlichen Laienmedicin zu begegnen, sie würde sich der Erteilung eines Lehrauftrages für die physikalisch-diätetische Therapie an einen wissenschaftlich geschulten Dozenten gar nicht widersetzen; sie wird sich aber dagegen wehren, dass ein Vertreter der sogenannten „Naturheillehre” mit einem Lehrauftrag betraut wird. In der Vertretung dieser Anschauung hat sie bisher auch stets die Unterstützung der Regierungsvertreter gefunden.

Die von den Leipziger Neuesten Nachrichten wiedergegebene Notiz aus Jena, wonach die Errichtung eines Lehrstuhls für Naturheilkunde nur eine Frage der Zeit sei, ist daher in keiner Weise begründet. Sie ist nichts weiter als ein Ballon d‘essai, den die gekennzeichnete Agitation steigen lässt.

Die medicinische Fakultät hält es zur Zeit nicht für geboten, ex officio zu der erwähnten Zeitungsnotiz Stellung zu nehmen. Sie stellt es aber Eurer Excellenz anheim, diese || Ausführung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums behufs beliebiger inofficieller Verwertung zur Verfügung zu stellen.

Die Fakultät ist willens, bei den bevorstehenden Verhandlungen des Weimarischen Landtages, sobald sich die Gelegenheit dazu bieten wird, aufs Neue zu der wichtigen Frage Stellung zu nehmen.

Mit vorzüglicher Hochachtung habe ich die Ehre zu sein

Euer Excellenz

ganz ergebener

Franz

d. Z. Dekan

Brief Metadaten

ID
45242
Gattung
Brief ohne Umschlag
Institution von
Medizinische Fakultät der Universität Jena
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
08.12.1907
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
5
Umfang Blätter
4
Format
21,0 x 33,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 45242
Zitiervorlage
Franz, Karl an Haeckel, Ernst; Jena; 08.12.1907; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_45242