Carl van der Leeden an Ernst Haeckel, Potsdam, 15. Februar 1909
Potsdam. Kurfürstenstr. N. 22
d. 15te Febr. 1909.
Hochverehrter Herr!
Aus Ihren liebenswürdigen Zeilen vom 8.3. vorigen Jahres, für die ich Ihnen noch immer meinen verbindlichsten Dank schulde, ersah ich, daß Sie am 16ten Februar Ihr 75stes Jahr vollenden.
In meinem eigenen, für die Allgemeinheit bedeutungslosen Leben bin ich zwar allen festlichen Jahrestagen möglichst aus dem Wege gegangen. Gegenüber Persönlichkeiten aber, deren Wirken Marksteine der kulturellen Entwickelung der Menschheit bedeuten, verriethe eine derartige geringschätzende Werthung von markanten Tagen einen Mangel an Weltanschauung u. Pietätsgefühl, dessen ich mich gerade Ihnen gegenüber nicht schuldig machen möchte. ||
Darum reihe ich mich heute ehrfurchtsvoll allen denen ein, die Ihnen zu Ihrem Ehrentage ihre begeisterungsvollen Glückwünsche darbringen.
Leider fällt dieser Tag mit Ihrem beklagenswerthen Abschied vom Universitätskatheder zusammen, von dem herab Sie seit Dezennien den zahllosen Kanzelpredigern aller Kirchen und Religionen den Krieg erklärten und im Lauf eines viertel Jahrhunderts ein Heer von geistigen Streitern herangebildet haben, die nicht nur in Deutschland sondern über die ganze Erde verbreitet sind und erwartungsvoll des großen Augenblickes harren, in dem der Weckruf einer unwiderstehlichen Autorität an Stelle des noch immer herrschenden semitisch christlichen Staatskirchenthums den autonomen Menschengeist als höchste und einzige Gewalt über Familie, Staat und Gesellschaft proklamiren wird.
Vielleicht wäre dieser Wendepunkt in unserem privaten und öffentlichen Leben gelegentlich der Bildung des Monistenbundes herbeizuführen gewesen; möglich || aber doch, daß die Zeit hierfür infolge der in den Kreisen unserer Hochschullehrerschaft beschämenderweise noch vorherrschenden Gesinnungsschwäche damals noch nicht reif war. Angesichts der Thatsache, daß Ihr geehrter Jenenser Herr College Eucken, um den Kern der christlichen Religion vor der ihn von der naturwissenschaftlichen, exakten Forschung drohenden Gefahr zu retten, in seiner Schrift „über religionsphilosophische Probleme“ auf 120 Seiten einen absolut widersinnigen Reflexionswirrwarr in schillernden Worten verfaßt hat, von einem hochmodernen wissenschaftlichen Areopag durch den Nobelpreis ausgezeichnet worden ist, muß man besorgen, daß wir von der Proklamirung der monistischen Weltanschauung und ihrer Consequenzen noch recht weit entfernt seien.
Man konnte einige Hoffnung auf den vorjährigen internationalen Moral Education Congress in London setzen; indessen die in den Verhandlungen dieses Congresses hauptsächlich bei den englischen Delegierten herrschenden rückständigen Anschauungen thun dar, daß auf eine internationale Initiative kaum zu rechnen ist.
Kommen aber wird und muß dieser Wendepunkt, wenn wir ihn persönlicha vielleicht auch nicht mehr erleben! ||
Als Sie mir in Ihrem Brief v. 8.3. vorigen Jahres mittheilten, daß Ihr hier in Potsdam als Amtsrichter fungierender Neffe geneigt sein würde, mir Ihr hiesiges Geburtshaus zu zeigen, hatte ich bald darauf Gelegenheit, diesem Herrn bei der grundbücherlichen Auflassungserklärung meines hier käuflich erworbenen Villengrundstücks gegenüberzustehen. Seine Zeit war jedoch durch andere schon wartende Partheien so in Anspruch genommen, daß ich es nicht für passend erachtete, ihn in außerdienstlicher Sache anzusprechen. Darauf verreiste ich längere Zeit und als ich Ende September zurückkehrte, wurde ich von einer schweren Bronchitis befallen, die leider einen chronischen Charakter annahm und mich noch bis zu diesem Augenblick an das Zimmer und Bett fesselt, so daß ich den beabsichtigten Besuch bei Ihrem Herrn Neffen noch nicht ausführen konnte.
Am 15en dieses Monats, nachdem ich diesen Brief bereits zur Hälfte geschrieben hatte, verschlechterte sich mein Befinden wieder einmal so, daß ich 2 Tage zu Bett bleiben mußte und ihn erst heute beenden konnte.
Ich darf wohl hoffen, daß Sie diese unfreiwillige Verspätung mir gütigst verzeihen werden.
Mit der Versicherung aufrichtiger Verehrung Ihr
ergebener
C. van der Leeden.
Um ein klein wenig zur Feier Ihres Geburtstages beizutragen, erlaube ich mir wieder den bescheidenen Beitrag von Einhundert Mark zu der Bestreitung der Verwaltungskosten des Phyletischen Museums beizufügen.
a eingef.: persönlich