Leonhard Schultze an Ernst Haeckel, Gurgl, 2. September 1907
Sit venia papyro!
Gurgl (Tirol, Ötzthal) den 2. Sept 1907
Hochverehrter Herr Geheimrath!
Soeben erhielt ich Ihren Brief mit der frohen Nachricht der Grundsteinlegung nachgeschickt: Eine Riesenfreude für mich! Mit der Wahl des Datums haben sie das Schicksal bei der Ehre gepackt, nun muß uns Alles erst recht gelingen! Ich danke Ihnen von Herzen, daß Sie die neue Würde eines phyletischen Inspektors mir als Erstem übertragen und für kommende Geschlechter urkundlich in Metall und Stein festgelegt haben. Sie wissen, wie es mein erstes Streben ist, den wissenschaftlichen und den persönlichen || Aufgaben gerecht zu werden, die diese hohe Vertrauensstellung in sich schließt, und mit dem Versprechen, ihnen meine beste Kraft zu widmen, erwidere ich freudig Ihr Glückauf!
Mögen Sie nun, nachdem Sie alle Geburtswehen der neuen Schöpfung glücklich überstanden haben, sich selbst Erholung gönnen! Lassen Sie sich bitte nicht durch Korrespondenz und Besuche, diese Sommersemester-Gespenster, die kurze Ferienreise, die Sie sich und Ihrer Frau Gemahlin vorgesehen haben, nicht noch weiter kürzen! Ich wünsche Ihnen in den bayerischen || Bergen einen schöneren September als uns Tirolreisenden der August gewesen ist: unberechenbarer Wechsel von Regen und Sonne durchkreuzte alle weiter ausholenden Pläne. Doch so von der Hand in den Mund leben von dem was jeder Morgen gerade beschert, ist mir ein behaglicher Wechsel der Daseinsbedingungen. Die Luft in fast 2000 m Höhe ist bei jedem Wetter belebend und in täglichen Bergwanderungen stählen sich die Muskeln herrlich.
14 Tage denke ich noch unterwegs zu sein, für den Fall, daß Sie mir irgend eine Mitteilung oder einen Auftrag an den Baumeister || zu mündlicher Erledigung zukommen lassen wollten, gebe ich meine Adresse: bis zum 9t September: Innsbruck, postlagernd, bis zum 16t September: München, postlagernd, dann: Jena.
In der Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen Ende des Monats und mit den besten Reisewünschen für Sie und Ihre Frau Gemahlin grüßt Sie vielmals
Ihr Ihnen stets dankbar ergebener
L. Schultze
Inspektor des phyletischen Museums