Jena 4.4.1919.
Meine liebe Nicht und Pate!
Für Deinen lieben Brief vom 28.3. danke ich Dir herzlich, ebenso für Deinen freundlichen Glückwunsch zu meinem 85. Geburtstage, der zugleich mein letzter gewesen ist. Meine Kräfte (besonders Herztätigkeit) nehmen jetzt so ab, daß ich nur noch wenige Monate dem großen Trauerspiel des Untergangs unsers teuren Vaterlands zuzuschauen gezwungen sein werde!
Ich sehe die gegenwärtige (innere und äußere) Lage ganz pessimistisch an und finde keinen Ausweg aus dem beispiellosen Chaos, in welches uns die politische Unfähigkeit des deutschen „Michel“, (- Volk und Regierung! -), der niederträchtige Haß unserer übermächtigen Feinde und die „Umwertung aller Werte“ gestürzt hat. Überall fehlt es an Vernunft und Sachkenntnis und an führenden großen Männern! ||
Mit herzlicher Teilnahme habe ich Dein und Deiner Familie Schicksal im verflossenen, verhängnisvollen, halben Jahre verfolgt. Ich danke Dir für die bezüglichen sehr interessanten Mitteilungen, und hoffe, daß Du bald einmal – in dem kommenden schönen Frühling – Gelegenheit finden wirst, sie durch mündlichen Verkehr in Jena zu ergänzen.
Sehr erfreulich ist es ja, daß Dein lieber Bruder Konrad Dich und Deine Familie in seinem romantischen alten Schlosse aufgenommen hat, und daß Ihr die herrliche Natur des schönen Elstertals unmittelbar geniessen könnt. Die Räthsel-Fragen der nächsten Zukunft lassen freilich alle weiteren Pläne im Dunkel! Grüsse Deinen lieben Mann u. Deine beiden frischen Jungen herzlich von mir!
Treulichst Dein alter Onkel
Ernst Haeckel.