Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Freienwalde, 14. März 1859

Freienwalde a/O. | den 14 Maerz 1859.

Alter Junge!

Heute kommt von Berlin Dein Brief aus Rom vom 1t d. M. Gleichzeitig erfahre ich, daß das Porto dahin nur 5¼ Sgr. kostet. Das ist zu lockend, Dir noch direkt zu schreiben. Ich eile deshalb, diese Zeilen auf die Post zu bekommen. Sie werden vermuthlich, wie Dein Brief, trotz der Anweisung „par Marseille“, durch Oesterreich gehen; Deiner trotz dem Poststempel Oderberg-Breslau u. ist am 9t in Friedeberg nachmittag ausgegeben.

Dein Römerbrief schwärmt gewaltig für das klassische Alterthum. Das verdenke ich Dir nicht. Wohl aber, daß Du die christliche Zeit so sehr unterschätzest, auf deren Schultern wir ebenso gut stehen, wie auf denen des Hellenismus. Oder meinst Du wir hätten ohne das Christenthum eben die Kulturstufe erreichen können, die wir jetzt einnehmen? Vielleicht durch den Buddismus? Ich glaube nicht daran, die Religion ist zu quietistisch. Und ohne eine solche? Warum gingen die Griechen zu Grunde trotz dem Höhepunkte ihrer Philosophie? – Es fehlte ihnen das wahrhaft erhaltende sittliche Element in ihrem geistigen Leben, welches uns eben das Christenthum gebracht hat. Ich gebe Dir zu, daß einzelne Gebildete sich durch philosophische Bildung einen sittlichen Standpunkt erringen können, der ihnen den Halt giebt für’s Leben, den die Massen nur durch die Religion erhalten. Aber eben die Durchdringung der letzteren von sittlich religiöser Bildung, die ein Volka kräftigt u. frisch erhält, findest Du nur bei den christlichen Völkern. – Freilich muß man nicht die Karrikatur für das Musterbild nehmen. – Aber die höchsten Blüthen mittelitalischer Malerei, wie Dub sie z. B. inc den Raphael’schen Loggien findest, werden Dich doch wahrlich nicht weniger ansprechen, als antike Statuen. || Genug davon ich will Dir nicht pedantisch vorpredigen, aber Deine Dithyramben für die Hellenische Plastik regen unwillkührlich zur Vertheidigung unsres christlichen Idealismus an, ohne den gewiß auch Eure Naturwissenschaften nicht das geworden wären, was sie sind. – Du schreibst ja noch gar nichts vom Karneval u. dem äußeren Leben u. Treiben; wenn Dich auch die Kunst so mächtig anzieht, solltest Du doch die Beobachtung der volksthümlichen Zustände deshalb nicht vernachlässigen; u. dabei gieb Dir doch Mühe, auch die guten Seiten herauszusuchen, die gewiß auch, wenn auch mehr verborgen, noch vorhanden sind. Ein Volk, das vor 4–5 Jahrhunderten auf der Höhe der Wissenschaft u. Bildung stand, weist gewiß noch Spuren der Lebenskraft auf, duch die es wurde was es war. So schnell wie im Alterthum verwehen die absterbenden Völker nicht u. dann glaube ich, daß jenes immer noch nicht unheilbar krank ist.

Wie gern sähe ich jetzt die pittoresken Darstellungen auf dem Dönhofsplatz, zu denen neuerlich, nach einer Anzeige, die ich gestern las, noch eine Ansicht von Rom vom Capitol aus u. eine auf das Innere von Florenz gekommen ist. Aber am Sonntage d. 6t d, als ich dort war, kam ich nicht dazu u. am nächsten Sonntag sollen sie geschlossen werden. Ich werde aber noch an Vater schreiben, daß er ja hingeht. – Die Nachricht von unsres kleinsten Jungen Geburt wirst Du wohl bald nach Absendung Deines 2t Römerbriefes erhalten haben. (Ja, wenn man die Wohnung immer vorher wüßte! Ich hoffe dieser soll Dich noch in Rom treffen oder Dir wenigstens nachgesandt werden). Der Jungee gedeiht bis jetzt prächtig. Die andern Kinder sind, wie fast alle, bei der stets wechselnden Witterung, erkältet. Annchen hat einf sehr ausgefahrenes || Gesicht u. ist von dem Ausschlag der um Mund und Nase hin- u. herwandert recht geplagt. Mimmi ist wohl auf. Mit ihr u. Mutter lese ich jetzt alle Abend einen Roman von W. Alexis: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“, der die Berliner Zustände in den Jahren 1803–6. trefflich schildert. Ein guter historischer Roman kann doch mächtig dazu beitragen, sich lebendig in eine vergangene Zeit zurückzuversetzen. Außerdem treibe ich in der Freizeit (die mir bei der Arbeit, die ich für den Kreisanzeiger übernommen, ziemlich knapp zugemessen ist; ich mache darin nämlich regelmäßig Mittheilung über die hiesigen Stadt-Verordneten Sitzungen u. über die Landtags Verhandlungen) Volkswirthschaftslehre, u. sehe dabei immer mehr ein, welch nothwendige Ergänzungswissenschaft dieselbe neben der Geschichte ist. Ich wollte nur, ich könnte mein Arbeiten mehr auf Einen Stoff concentriren. Diese Zerrissenheit giebt das Gefühl derg Unbehaglichkeit.

Am Sonntag d. 20st d. M. denken wir zu taufen, wenn wir nicht, der Mutter wegen, die Taufe noch bis zum 4t hinausschieben. Mutter leidet nämlich wie Du von Vater gehört haben wirst, seit Anfang d. Monats an einem rheumatischen Uebel, das, wenn auch nicht bedenklich, doch hartnäckig ist u. ihr wohl schwerlich das Herreisen in der nächsten Zeit erlauben wird. Wir hoffen aber Vater jedenfalls, außerdem die jungen und alten Jacobi’s, Sethe’s aus Potsdam, Heinrich, Adolph Schubert u. vielleicht auch Scheller’s hier zu sehen. Zu Pathen haben wir gebeten: Vater, Muter Minnchen, Tante Untzer, Geh. Räthin Jacobi, Tante Adelheid, Schwäger Carl und August Jacobi, Präsident Scheller. Wer von hier noch dabei sein wird, wird sich ganz darnach richten, wie viele von Berlin kommen. ||

Wie lange wirst Du denn in Neapel Dich aufhalten? Vergiß nicht Dir das Neapel und die Neapolitaner v. Mayr (ich glaube, so schreibt er sich) zu verschaffen. –

Deinem Schatz scheint’s ja in Steinspring recht gut zu gehen. Ich kann mir sehr wohl denken, wie wohlthuend es ist, eine Weile ganz für sich still in der Zurückgezogenheit zu leben; ich will damit nicht gesagt haben, daß ich das sehr lange aushalten würde; aber als Ruhepunkt, um sich einmal wieder innerlichh zu sammeln ist es gewiß vortrefflich.

Nun ade, alter Junge, schreibe nur gleich wieder im ersten Briefe Deine Adresse in Neapel. – Dorthin werden die Briefe über Marseille gehen.

Dein treuer Bruder

Karl.

Mutter Minnchen, Frau u. Kinder lassen bestens grüßen. Bald hätte ich vergessen Dir noch etwas von dem Artikel „Wetter“ zu sagen. Es läßt sich alles zu einem zeitigen Frühjahr an; haben wir auch in den letzten Wochen viel stürmisches u. regnigtes Wetter gehabt, so ist es doch aber nicht kalt, u. dazwischen einzelne auffallend schöne u. milde Tage. Die Stachelbeeren entfalten sich schon, desgl. blühen Leberblumen und Veilchen, da finde ich eben eine Zeitung mit einer Mittheilung über Virchows Vortrag den er am 12/2t. gehalten hat. Von Dove hörte ich einen am vorigen Sonnabend über den Kreislauf der Gewässer. Dann war ich noch mit Vater in der geographischen Gesellschaft, in der ein Dr. Karsten interessante Mittheilungen über seinen Aufenthalt ini Cumana machte. Montag drauf waren Richter u. Assessor Brecht zu Mittag bei d. Aeltern.

a korr. aus: Volks; b eingef.: Du; c eingef.: z. B. in; d eingef.: d. 6t; e korr. aus: Den Jungen; f korr. aus: einen; g korr. aus: des; h eingef.: innerlich; i eingef.: seinen Aufenthalt in

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.03.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44411
ID
44411