Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Bertha Sethe sowie Karl, Hermine und Ernst Haeckel, Bad Eilsen, 27. Juni 1856, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Eilsen 27 Juni 56.

Liebe Bertha!

Wir sind gestern Vormittag um 10 Uhr hier angekommen. Am Mittwoch Abend in Berlin fanden wir im Wagen Gardefrauen aus Potsdam, darunter eine junge sehr geschwätzig nach ächtem Potsdamer Gardeschnitt. Schade, daß sie uns nicht bis hieher begleitet hat. Eine ältliche Generalin stieg in Brandenburg aus, die schon vernünftiger zu sein schien. Der Zug von Berlin bis Bükeburg fuhr eigentlich schnell und geht nur durch das öftere Anhalten von ¼, ½ und 1 Stunde (in Magdeburg) langsam. So hielt er bei Werder wohl ¼ Stunde an, was ich nicht begreifen konnte und im Finstern nur sah, daß allerlei aufgeladen wurde. In Magdeburg klärte sich das Räthsel auf. Es waren einige 60a Körbe frische Kirschen, die in 3 Stunden nach Magdeburg geschafft wurden, um einige Stunden später den Markt zu zieren. So profitirt das Städtchen Werder mit seiner Obstkultur im tiefen Sande von der Eisenbahn, früher gingen die Körbe zu Waßer nach Berlin. Diese Verkehrswege, welche die Eisenbahn schafft, sind doch unberechenbar. Durch die sandigen Niederungen der Mark kommt man in der Nacht nach Magdeburg, beim allmählichen Tagen nach Braunschweig, wo die Wagen gewechselt werden, die wir bis Bükeburg behielten. Im Braunschweigschen ist der Boden fruchtbar, im fruchtbaren Magdeburgischen war es noch finster. Im Hannöverschen zeigte sich der Heidegrund. Es mochte in Hannoverb schon früh 6 Uhr sein. Die Stadt sieht sehr hauptstädtisch aus, als Mittelpunkt eines weiterstrebenden antipreußischen Königreichs. Hinter Nenndorf treten linksc die Westphälischen Berge hervor, man behält sie fortdauernd zur Linken und fährt zum Theil durch hübsche Eichenwälder. In Bükeburg steigt man aus und fährt nun durch schönes westphälisches Land hieher. Wir hatten wenig geschlafen, hörten schon unterwegs von dem heilsamen Bade Eilsen und als wir hier in der Droschke an einem Gasthaus vorfuhren, stärkten wir uns sogleich an einem Bouillon. Ich lief nun aus, Wohnungen zu suchen. Im Gasthaus selbst wird künftige Woche eine hübsche Wohnung leer, die wir beziehen werden. Bis dahin haben wir eine Interimswohnung genommen, 2 Zimmerchen, die auch nicht übel ist, aber etwas entfernter liegt. Gegen 1 Uhr wurde im Gasthof Mittag gegeßen, ganz gut; recht wohlhabende Leute aus dem meist höheren Mittelstande. Ich hatte ein Vis à vis-a-vis an einer Pächterin oder Gutsbesitzerin aus der Ukermark, bei Templin oder Lychen, von der ich mir viel erzählen ließ. Um 2 Uhr gingen wir ins neue Quartier und hielten ein Schläfchen. Um 3 Uhr suchte ich den Doktor auf, Hℓ. Geheimen Hofrath v. Möller aus Minden. Gegen 6 Uhr kam er zu uns, um Lotten zu sehn und zu sprechen. Er erzählte uns von der Wirksamkeit des Bades auch gegen Flechtenübel und meinte: die Hauptkrankheit bei Lotten sei denn doch wohl vorüber und Quinke möge es wohl wünschen, nun noch den etwa zurükgebliebenen Stoff oder Neigung zur Wiederkehr fortzuschaffen. Lotte hat soeben das 1ste Bad genommen, soll aber von Morgen ab früh vorm Bade noch einige Gläser Molken trinken, was ihr nicht sonderlich behagt. Mit dem Bade ist sie zufrieden. Gestern war das Wetter meist aber trübe, erst gegen Abend klärte esd auf. Heute früh war es schön. Wir sind gestern Abend herumgewandert, auch heute früh. Die Gegend ist schön, Eilsen liegt in einem Thalkeßel, umgeben von schönen bewachsenen Laubholzbergen; das Thal und die Abhänge der Berge sehr fruchtbar, sehr kultivirt gewährt einen höchst wohlthätigen Eindruck und verräth den Fleiß der Bewohner. Menschen, Landbau und Lebensart ganz westphälisch. Das Getreide steht außerordentlich schön, so wie auf der ganzen Tour von Berlin hieher. Hier im Thal der Roggen noch höher als Mannshoch, die üppigsten Bohnenfelder für Pferde und Schweine, Kartoffeln, Gerste etc., die Häuser der Dörfer mit Ziegeln gedekt, so daß sie röthlich aus dem grünene Gebüsch hervorragen, was die Landschaft sehr verschönert. Die Wälder laufen auf den Bergen von Osten nach Westen fort, der Menschenschlag ganz westphälisch in westphälischer Bauernkleidung, wenig Ebene, immer Berg und Thal. In 1 Stunde fährt man nach Bükeburg, von da 10 Minuten nach Minden (per Eisenbahn). Eilsen ist eigentlich ein Dorf, in welchem der Fürst zu Bükeburg das Bad eingerichtet hat, so daß auch die Wohnungen meist ein städtisches Ansehen und Einrichtung haben. Die Menschen des Orts und die Bauern gefallen mir. Der Fürst bezieht allein aus seinen Kohlengruben über 100.000 rℓ Revenüen. Die Fremden sind meist Norddeutsche aus Hamburg, Bremen, Holstein, Dänemarkf. Wir kennen sie noch nicht. Die Haute Volée scheint sehr zu fehlen, für mich und Lotte ein großes Unglük (!!) Man sieht sehr viele Krüppel, das Bad soll sehr wirksam sein. ||

Wir waren gestern Abend sehr ermüdet von der Reise und haben treflich geschlafen. Lotte klagt sehr über Mangel an Kräften und ist der Ruhe, die ihr hier nicht fehlen wird, sehr bedürftig. Die Bücher sind schon ausgepakt, auch habe ich ihr schon aus Perthes vorgelesen. So werden wir abwechselnd mit Baden, Spatzierengehn, Lesen und Plaudern unsre Zeit verbringen. Wir wünschen nur gutes Wetter, wenigstens wenig Regen. Die Spaziergänge sind sehr hübsch, beim Bade- und Gesellschaftshause eine große Allee in der Ebene, die nur sehr schmal ist. Bald steigt man auf sehr hübschen Promenaden in die Berge. Man sieht hier viel Lahme und Krüppel. Die Gesellschaft werden wir nicht vermeiden, aber auch nicht sonderlich suchen. Die Bücher helfen uns und die 4 Wochen werden bald vorüber sein. Wenn ich das Landvolk sehe, denke ich immer an die alten Germanen unter den Römern oder einige Jahrhunderte später an die Sachsen unter Karl dem Großen. Der Märker in der Mark ist schon ein andrer Schlag, dem sieht man die Zähigkeit und den Kampf mit der Natur, der man die Früchte abringen muß, schon am Gesicht an; dieses zähe, klubische, kräftige Wesen bildet seinen Charakter, dabei die kriegerischen Traditionen und der Soldatenschritt. Hier in Westphalen sieht sich der Mensch durch seinen Fleiß sehr belohnt, eine wahrhaft üppige Natur. Der Mensch und die Natur, die er bewohnt, mit seiner Geschichte, sind nicht zu trennen. Das erste, wenn ich in ein andres Land komme, ist, daß ich den Bauern nachlaufe, und ihrer Eigenthümlichkeit nachspüre. Der Charakter unter den gebildeten Klaßen ist viel vermischter, obwohl auch hier der Nord-Deutsche sehr hervortritt mit seinen Seestädten und Marschland. Ich werde wohl auf der Reise manches zu sehen bekommen, am Rhein die Franken, in Würzburg den Katholicismus, weiterhin auf der Rükreise den Thüringer. – Nach einigen Tagen werde ich wieder niederschreiben. Sei so gut, diesen Brief an Karl zu schiken, daß er ihn Ernst mittheilt. Umgekehrt werde ich auch an Ernst schiken, daß er Euch mittheilt.– Die Ruhe des ländlichen Lebens hier contrastirt recht mit dem Berliner Geräusch. Lotte freut sich auf diese Ruhe. Grüße die sämtlichen Unsrigen und die Freunde aufs Herzlichste, insbesondre den gestrengen Herrn Doctor: Ich kam mir auf der Herreise vor wie ein blind gehorchender Soldat, der folgen muß, auch wenn er in die Hölle geschickt wirdg, ohne nach den Gründen zu fragen. Möller meinte: es werde über Eilsen nicht so viel geschrieben und geredet wie über Nenndorf er wolle nöthigenfalls die gelungenen Kuren und Flechtenkrankheiten nachweisen. Für heute genug. Dein

alter Haeckel.

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Ohne einen herzinnigen Gruß von Eurer Alten, kann doch Häckels Brief nicht abgehen, zu dem ich nur noch als Ergänzung hinzufüge, daß wir in Werder für 1 Sg Kirschen assen, die so herrlich reif und süß waren, daß es uns nur leid that, daß ich Euch nicht eine Ladung senden konnte. Haltet Euch nur recht frisch und gesund; und schreibt uns recht bald. Hast Du, lieber Ernst, Dich schon erkundigt, ob Du zu uns nach Aurich kommen kannst? Ich grüsse und küsse Euch alle. Mit alter treuer Liebe

Euere Lotte.h

a gestr.: 20-30; eingef.: einige 60; b eingef.: in Hannover; c gestr.: rechts; eingef.: links; d gestr.: sich; e eingef.: grünen; f eingef.: Dänemark; g eingef.: wird; h Text weiter auf dem linken Seitenrand: Aurich kommen … Euere Lotte.

 

Letter metadata

Datierung
27.06.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44131
ID
44131