Ernst Haeckel an Bertha Sethe, Berlin, 18. März 1858
Berlin am Morgen des achtzehnten März 1858
Liebe Tante Bertha!
Durch dies Blättchen stellt sich Dir
heute nun Dein Neffe für:
Arzt Chirurgus und für Kinder
auch Viehdoctor und Entbinder.
Zwar der Praxis möglichst fern,
doch in Theorie ein Kern,
Wenn ein Kern auch ohne Schaalen
wie ein Stern ohn’ alle Strahlen. –
Wirklicher Geheimerath
in der Fisch und Krebse Staat,
Ritter des Gentianenordens,
Wildes Kind des rauhen Nordens,
Wurzelgräber, Moosesucher,
feiner Microscopeluger,
Kräutersammler, Fröschefänger,
Meeresschwimmer, Gletschergänger,
Alpensteiger, Felsenspringer,
Waldeswandrer, Wellenringer, ||
Pflanzen und der Thiere Freund,
aller Hypercultur Feind;
Unverdorbene Natur,
doch von Bildung keine Spur,
wenigstens von sogenannter. –
Dafür aber anerkannter
urwäldlicher Wildheit voll,
und zuweilen etwas toll,
täppisch, tolpatsch, derb und dreist,
unruhvoll, maaßloser Geist.
Von den sogenannten „Sitten“
hat er wenig noch gelitten. −
Stamm von Eisen unpolirt,
nicht mit Eleganz geziert. –
„Seedüvel“ in Helgoland.
An des Mittelmeeres Strand
„Natatore grande bianco“ –
Auch „Tedesco Vagabondo“
ebenso in Mailands Mauern,
Wie ein „Gaisbub” auf den Tauern.
„Lazzaroni“ unter Palmen,
„Fescher Bua“ auf den Almen. ||
Nach halbjährger Zuchthaushaft
überwallt ihn heut die Kraft
und begeistert so den Schluß
von den Examinibus,
daß selbst Prosa keine Schranken
setzt dem freien Luftgedanken.
Mögst Du so ihn lieb behalten
Und ihn so nur umgestalten,
daß zum Wahren, Guten, Schönen,
ganz sein Sinn sich mag gewöhnen,
daß zuletzt denn doch der Ganze
selbst nur bleibe eine Pflanze,
die aus Blüthen Früchte bringt
und zur Wahrheit durch sich ringt.
Wahrheit, Freiheit und Natur
mögen ihn auf ihrer Spur
leiten; Kunst und Wissenschaft
mögen üben seine Kraft.
Echter Freundschaft Liebessinn
führe ihn zum Rechten hin,
daß er streb mit aller Stärke,
nach dem neu begonnenen Werke
Neuen Lebens frischem Spiel,
neuen Strebens ernstem Ziel.