Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Zürich, 22. August 1864

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Zürich 22. Aug. 64

Liebe Eltern!

Mit rechter Sehnsucht sehe ich einem Brief von euch entgegen, der mir sagt, wie es euch geht. Hoffentlich ist die Reise glücklich überstanden, und bekommt Dir, lieber Vater, das Bad gut, so daß Du nun gestärkt und ohne hypochondrische Grillen nach Berlin zurückkehrst. Das wünsche ich Dir von ganzem Herzen. Meine Reise ist bisher mittelmäßig verlaufen, mit viel Regen und viel trüber Stimmung. Die schrecklichen Erlebnisse des letzten halben Jahres drücken mich sehr nieder und kommen mir jetzt mit aller Macht wieder recht mit allen entsetzlichen Einzelheiten zu Bewußtsein, da ich nicht, wie in Jena, durch viele und nothwendige Arbeiten abgehalten bin, meinen düstern Trauergedanken nachzuhängen. Auch körperlich bin ich recht herunter und habe bei den verhältnismäßig schwachen Gebirgswanderungen im Allgäu, die mich ungemein ermatteten, recht empfunden, wie sehr ich mich verändert habe. Indeß hoffe ich, daß die alte Kraft und Rüstigkeit in einigen Wochen wieder kehren wird, wenn ich mich erst wieder mehr werde erholt haben. Ein großer Theil der Mattigkeit kommt jedenfalls auch auf Rechnung der großen physischen und moralischen Anstrengungen und Arbeiten der letzten traurigen Wochen. ||

Wie unendlich traurig und weh mir das Wiedersehen der Alpen war, die mich das letzte Mal so unendlich glücklich mit meiner unersetzlichen Anna zusammen gesehen haben, kann ich euch gar nicht sagen. Ich meinte immer, das Herz müßte mir zerspringen. Jede Alpenrose erinnerte mich an die Sträuße, die sie mir pflückte, und jeder schöne Blick an das begeisterte Entzücken, mit dem sie zum ersten Male die Alpennatur begrüßte. Und wie unendlich verlassen und kahl komme ich mir jetzt immer auf meinen einsamen Wanderungen vor! Wie lieblich und reizend war grade da meine holde Gefährtin mit ihrem frischen und stets heitern Sinn! Die tiefste Wehmuth ist jetzt über die ganze Natur gelegt. Recht passend trifft es sich unter diesen Umständen, daß jetzt bis zum 25 (Donnerstag) mir hier die Schweizer Naturforscher- Versammlung mit den zahlreichen alten Freunden, die ich wiedersehe, so mannichfaltige Zerstreuung und Abwechslung neuer Eindrücke bietet. Ich bin sehr freundlich aufgenommen und wohne von heute an prächtig in der Villa eines reichen Kaufmanns, Sieber-Giesi, der mich aus dem Adler heut früh abholt. Ich werde wahrscheinlich nächsten Donnerstag ins Berner Oberland reisen. Adressirt euren Brief z. Adr. Professor Heer, der mir denselben event. nachschicken wird. Auch körperlich kann ich mich jetzt hier erholen. Ich werde Anfangs nur schwache Touren machen. Schickt den Brief an Carl. Tausend Grüsse von

eurem treuen Ernst.

a eigh. Vermerk Heinrich Schmidts: 2. Brief vom 26. 8. auf letzter Seite vom Reisebericht v. 26. 8.;

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
22.08.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 43807
ID
43807