Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Gottlob und Charlotte Haeckel, Innsbruck, 30.9.1855

Innsbruck 30 / 9 55 Abends

Liebe Eltern!

Heute Morgen, als ich eben den in Mals angefangnen Brief vollendet und auf die Post getragen hatte, um ihn abzuschicken, erhielt ich ganz unerwartet post.[e] rest.[ante] 2 Briefe, von euch und von Ziegenrück, mit der dringenden Einladung, euch doch noch in diesem Oktober, oder, falls nicht dies, doch in den Weihnachtsferien zu besuchen. Das letztere ist, abgesehen von andern Gegengründen, schon deßhalb ganz unmöglich, weil wir dort in Würzburg nur 3–4 Tage Weihnachtsferien haben und also durch eine 8tägige Reise nach Berlin die Continuitaet des ganzen Wintersemesters und seines Studiums unterbrochen werden würde. Es bliebe also nur noch übrig, den Rest dieser Ferien dazu zu verwenden. Daß mir dieser Besuch nicht mindere Freude u[nd] keinen geringern Genuß, als euch, gewähren würde, brauche ich euch nicht erst zu versichern, zumal es mir grade jetzt nach Vollendung meiner herrlichen Reise das lebhafteste Bedürfniß ist, mich darüber ganz gründlich auszusprechen. Auch würde es mir sehr große Freude machen, die alten Berliner Freunde einmal wieder zu sehn. │ Ganz besonders würde mich aber der Gedanke dazu vermögen, dir, liebstes Mutterchen, in deinem jetzigen kränklichen Zustande dadurch eine Freude zu machen. Andererseits bitte ich euch aber auch zu erwägen, daß dadurch mein ursprünglicher Plan, die poliklinische Praxis schon in den Ferien anzufangen und dann den Rest der Ferien zu der sehr nöthigen Repetition der pathol.[ischen] Anat.[omie] und der Secirübungen zu verwenden, vernichtet wird, was mir gewiß hinsichtlich der energischen Fortsetzung der jetzt so lange unterbrochnen medicin.[ischen] Studien sehr nachtheilig wäre. Auch würde dadurch die ohnehin schon ziemlich bedeutende Summe, >der< Reisekosten noch vergrößert. Und endlich würde es wohl ein großer Nachtheil für die ausführlich schriftlich auszuarbeitende Reisebeschreibung sein, wenn ich euch jetzt schon im voraus mündlich die details der schönen Reise mittheilte, obwohl das andererseits auch gewiß seine Vortheile hätte. Ich bitte mich also diese Vor= u[nd] Nach=theile einer baldigen 8täg.[igen] Reise nach B.[erlin] abzuwägen.

Wenn ihr es sehr wünscht und wenn es namentlich dein dringender Wunsch, liebste Mama, ist, mich noch vor Ostern, wo ich ja wieder auf lange Zeit zu euch komme, zu sehen, so würde ich den Rest der großen Ferien noch ganz zur Reise verwenden, etwa bis zum 16ten in München, 18ten in Nürnberg bleiben u[nd] am 19ten in Berlin eintreffen, wo ich dann 5–6 Tage bleiben könnte. Allerdings könnte ich dann die Poliklinik erst im Novemb.[er] anfangen und müßte die Repetition der Secirübungen auf spätere Zeit verschieben. Schreibt mir nun jedenfalls, was ihr darüber denkt, baldigst nach Muenchen post.[e] rest.[ante] damit ich danach meine Maßregeln treffen kann. Wie gesagt, sehr große Lust, euch jetzt noch auf ein paar Tage zu besuchen ist auch bei mir vorhanden, und nur die Rücksicht auf die weitere Unterbrechung meiner jetzt ohnehin schon so sehr vernachläßigten medicin.[ischen] Stud.[ien] würde mich davon abhalten. –

Ich muß diese Zeilen mit Bleistift schreiben, weil wir, da alle Gasthöfe voll s[in]d, in ein Privathaus einquartirt sind, wo ich heut Abend keine Tinte bekommen konnte. │

Der heutige Tag hat mir wieder außerordentliche reiche Genüße und Anschauungen gebracht. Ich habe das ganze Tiroler Volksleben recht lebendig in= u[nd] auswendig kennen gelernt. Das Glänzendste war früh der große Festzug wo ich 4000–5000 Schützen, alle in Nationaltracht der verschiednen Thäler, sehr malerisch u[nd] bunt, 3mal bei mir vorbei defiliren sah. Nachmittags waren wir in einem merkwürdigen Volkstheater, das ganz an die Schauspiele des Mittelalters erinnerte, mit Tiroler Gesang dazwischen. Abends war höchst glänzendes Feuerwerk u[nd] Ball. –

Die Nachricht von dem Tode d[e]s jungen Schmids hat mich heute wie ein Donnerschlag getroffen. Mir vergingen wirklich alle Gedanken. Welches Unglück für die Wissenschaft, solche glänzende Talente zu verliefen! Wie ungerecht ist doch d[a]s Schicksal! Die besten fallen immer am frühsten! Der junge Schmidt war Mitglied unsres naturwissenschaftl[ichen] Vereins u[nd] obgleich ich ihn nicht grade näher kannte, habe ich doch ihn sehr bald hoch schätzen gelernt. Gott sei Dank, daß wenigstens J.[ohannes] Müller gerettet wurde, und daß Lachmann nicht mit auf dem Schiff war. Mir ist heute die Geschichte den ganzen Tag durch den Kopf gegangen. –

Nun Ade! Euer alter Ernst.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
30.09.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 43806
ID
43806