Anonym

Anonym an Ernst Haeckel, [Oldenburg, 10. Januar 1917]

Solche Kräfte entbindet das Christentum; auch ein Hindenburg wird von ihnen getragen. Du u. Deine Gesinnungsgenossen aber habt sie im deutschen Volke untergraben.

Mit all Eurem Wissen nehmt Ihr das Größte nicht wahr, den Geist, die Gottheit, die hinter allem Erschaffenen steht, zu der wir während unseres Erdendaseins emporwachsen sollen.

„Herr, zu Dir sind wir erschaffen, u. unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in Dir.“ – Augustin.

„Es ist kein eitler törichter Wahn,

Erzeugt im Gehirne des Toren,

Im Herzen kündet es laut sich an:

Zu was Besserm sind wir geboren.

Und was die innere Stimme spricht,

Das täuscht die hoffende Seele nicht.“ – Schiller

Ihr meint, Ihr liebt Euer Volk u. doch zerstört Ihr den Nährboden, aus dem es seine edelsten Kräfte zieht? Ist nicht die mächtigste Macht die unsichtbare Macht des Gewissens, die Gottesstimme in uns? Wo sie || fehlt sind Polizei u. alle Androhung von Strafen machtlos gegenüber der Selbstsucht. Der Eigennutz regiert mit seinen unheimlichen Folgen wie Kriegswucher, Geburtenrückgang u. all den andern finstern Mächten, die am Kerne unseres Volkstums nagen. Fragt sie, die Männer u. Frauen, die an der sittlichen Gesundung unseres Volkes arbeiten; nicht mit Vernunftgründen ist ihm beizukommen (wie vielen ist die Kraft eines höhern Denkvermögens überhaupt versagt!) – einzig u. allein mit der Waffe eines auf echter Überzeugung ruhenden Gottesglaubens.

Diesen kostbarsten Besitz habt Ihr ihm geraubt bis in seine untersten Schichten hinein. Dank Eurer Weltanschauung sinken heute Tausende hoffnungslos, verzweifelt ins Grab, um andere Tausende ebenso hoffnungslos, ebenso verzweifelt zurückzulassen.

Oh, über den Gelehrtendünkel, an dem sich das ewig wahre Wort erfüllt:

„Da sie sich weise dünkten, sind sie zu Narren geworden!“

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.01.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 43695
ID
43695