Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Harald Krabbe, [Berlin, nach dem 14. September 1858]

Mein lieber Freund,

ich kann mir lebhaft das ungläubige Erstaunen, oder vielmehr den gelinden Schreck denken, welcher dich beim Anblick dieser unglaublichen Anzeige mit einer cutis anserina überzieht, obwohl ich andererseits vermuthe, dass du, da du mich ja so genau kennst, vielleicht weniger ausser dich gerathen wirst, als mehrere andere Freunde, welche mir wegen meines unbegreiflichen Leichtsinns nicht Vorwürfe genug machen können. Beruhige dich also vorläufig bei dem Factum, welches übrigens keineswegs so neu ist, als es aussieht, sondern bereits im Anfang Mai, ein paar Tage nach Fockes Abreise, sich ereignet hat. Nur sollte es, aus verschiedenen Gründen, bis jetzt geheim gehalten werden. Vielleicht kannst du dir nun die interessante psychologische Veränderung meines ganzen Wesens erklären, welche genaue Beobachter nach dem Schluss des berühmten Staatsexamens an mir bemerkt haben wollen. Und dass ich in der That in diesem Sommer ein Anderer war, muss ich selbst fast glauben. Natürlich ist meine liebe Braut eine von den berühmten 15 Cousinen, und zwar, wie du dir denken kannst, die vorzüglichste. Sie ist zugleich die jüngste Schwester meiner Schwägerin. Wenn ich nicht irre, hast du sie selbst einmal hier gesehen, als wir italienisch lasen; ein kleines blauäugiges, blondhaariges, sehr munteres und aufge-||wecktes Wesen voller blühender Phantasie, schwärmerischer Naturbegeisterung und doch voll klaren Verstandes und richtigem Gefühl. Dass a ich in der lieblichen, gemüthvollen Seele wirklich den besten Schatz für mein ganzes Leben gefunden zu haben glaube, macht mich sehr glücklich, und ich sehe froh und getrost in die Zukunft, obwohl freilich noch viele Jahre vergehen können, ehe eine kleine Universität sich bewogen findet, mich als Professor der Zoologie oder Anatomie anzustellen. Meine Reise nach Italien wird übrigens deshalb nicht aufgegeben, sondern nur etwas verschoben. Ich werde nämlich nun erst Ende Januar fortgehen, Februar in Florenz, März, vielleicht auch April in Rom bleiben, dort hauptsächlich Kunst studiren, und dann Ende April nach Neapel gehen, wo ich den Sommer über in Seethieren arbeiten werde. Den Winter werde ich dieses Studium in Messina fortsetzen und dann im Frühjahr 60 hierher zurückkehren und mich allmählich habilitiren. Wenn ich deine Schwester und deren Gemahl da irgendwo treffen könnte, so sollte mich das sehr freuen. Hoffentlich ist der Brief an Herrn Dr. Vella in Turin nicht so eilig, so dass es noch Zeit genug ist, wenn ich ihn im Januar übergebe. Wünschst du ihn früher besorgt zu haben, so sei so gut, es mir zu schreiben. Ich werde ihn dann von hier schicken. Ich werde wohl jedenfalls über Turin nach Genua gehen. Dass es dir in deiner neuen Stellung in jeder Beziehung so gut gefällt, freut mich sehr. Dass du dich aber so entschieden aufb den „Gegenbaur’schen Standpunkt“ hältst, kann ich nicht billigen, sondern muss dich vielmehr von ganzem Herzen ermahnen, meinem guten Beispiele recht bald zu folgen. Man hat vorher doch keine Vorstellung, was für ein Glück das ist, eine so liebe weibliche Seele, die das Gemüth des Mannes versteht und ergänzt, zu besitzen. Sagt doch schon der alte Faust: „S’ ist eine der grössten Himmelsgaben, so ein lieb Ding im Arm zu haben“! Also wünsche ich nur, dass aus dem Kjöbenhavner Damenflor dir bald die volle Liebes-Rose in aller Pracht entgegen blühen möge. Der Mensch besteht wirklich || nicht nur aus Naturforscherverstand und wird erst ein ganzer Kerl, wenn auch die Gemüthsseite ihre gehörige Ausbildung und Befriedigung findet. Wie mir der Rest des Sommers nach deiner Abreise vergangen, hast du vielleicht durch Hartmann gehört. Ich habe Vormittags immer noch mit c ihm, Wagenerd und Lieberkuehne, die äusserst nett und freundlich waren, auf dem Museum gearbeitet. Die Nachmittage habe ich von Juli an ausschliesslich, von 3–8 Uhr, in dem Atelier des Prof. Biermann zugebracht, wo ich auf eine ganz herrliche Methode Landschaftsaquarelle malen gelernt habe. Alles wird nur mit 4 Chenall’schen Farben: Preussischblau, Carmin, gebrannte und ungebrannte Terra siena gemalt. Die Manier ist wirklich genial, sehr leicht und giebt mit wenig Arbeit herrliche Effecte. – Wo ich die Abende des Sommers regelmässig zubrachte, wirst du dir wohl denken können. Es waren die schönsten meines ganzen Lebens. Grössere Reisen habe ich nicht in diesem Sommer gemacht. Mitte August war ich noch einmal in Jena, zu der 300 jährigen Jubelfeier der Universität, von der du wohl in den Zeitungen gelesen hast, die wirklich über alle Beschreibung gelungen war, und die mir sehr gefallen hat. Ich habe nie ein in jeder Beziehung so harmonisch geglücktes, freudevolles Fest mitgemacht. Anfang September war ich mit meiner Braut und meinen Eltern 14 Tage in Heringsdorf, einem reizenden Ostseebade auf der Insel Usedom, wo wir beim schönsten Wetter in einer sehr anmuthigen Gegend mit grossen Buchenwäldern, vielen Landseen und hügeligwelligem Terrain, einer köstlichen Herbstluft genossen. – Von unseren Freunden, die dich alle herzlich grüssen lassen, ist nicht viel zu erzählen. f Chamisso practicirt in gewohnter Art, d.h. nicht –, Hartmann ebenfalls, beschäftigt sich aber ausserdem viel mit Mermis, deren Anatomie er, mit Widerlegung der Meissner’schen Arbeit, vollständig geben will. Von Mister haben wir nichts gehört. Focke ist Assistent am Hospital in Bremen und macht alle 3 Monate eine Station seines Staatsexamens, sodass er wohl in einem Jahr damit fertig || sein wird. – Er scheint sich, abgesehen von Langerweile, dabei wohl zu befinden. Bezold und Martens waren auch nicht verreist. Ersterer treibt Zuckungsgesetze, letzterer Schnecken (wie immer!). Uebrigens lese ich mit dem lieben Martens jetzt ganz nett italienisch, wobei wir auch deiner g oft gedenken; jetzt haben wir: La Locandiera di Goldoni u. Il Conte di Carmagnola di Manzoni gelesen. –h

Du Bois ist noch immer nicht zu Muellers Nachfolger ernannt. Dagegen ist Reichert als Anatom hier eingetroffen und scheint ein recht netter Kerl zu sein. –

Nun, mein lieber, alter Junge, leb für heut recht wohl, halte dich in deinem neuen Amte munter und frisch, und lass bald etwas von dir hören deineni treuen, alten Freund

Ernst Haeckel.

Meine Eltern lassen dich herzlichst grüssen. Claparède geht es relativ gut; er fängt jetzt an zu lesen.

[Beilage]

ANNA SETHE,

ERNST HAECKEL,

DR. MED. UND PRAKT. ARZT

VERLOBTE.

HERINGSDORF UND BERLIN, DEN 14. SEPTEMBER 1858.

a gestr.: ch; b korr. aus: aud; c gestr.: h; d irrtüml.: Wagner; e handschriftl. eingef.: Lieberkuehn; f gestr.: V; g gestr. odt; h handschriftl. eingef.: La Locandiera … gelesen.–; i irrtüml.: deunen

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
Oktober 1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
43172