Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 22. August 1914

Wien, 22. August, 1914.

Mein hochverehrter Freund!

Wie soll ich Ihnen für all’ die Liebe und Güte danken, in der Sie anlässlich meines 50. Geburtsfestes mein gedacht? – Für die Nachsicht, die Sie meinem so langen Schweigen entgegenbringen? Ich hab’ Ihnen noch für Ihren lieben Brief samt Bild und die geistvolle Abhandlung, die Sie mitsandten zu danken u. schon find’ ich in der herrlichen Widmungs-||Kassette, die mir die Freunde meiner Dichtungen überreicht, Ihr entzückendes Aquarell und gestern ging mir Ihr ebenso geistvoller als tief mitempfundener Artikel über das brudermörderische England zu. Vielleicht interessirt es Sie, zu erfahren, dass der letzte Brief, obwohl er den dreimaligen Vermerk „Geprüft“ trug und das Stadtsiegel der Stadt Jena – dessenungeachtet in Dresden „militärischerseits unter Kriegsrecht geöffnet“ wurde, was der Überwachungsoffizier Köhler mit seiner Unterschrift bestätigt. Der || Mann hat einen guten Griff getan, denn wenn er auch bei zwei so guten Patrioten, wie wir es sind, nicht auf seine Rechnung kam, geht er nun doch in die Litteratur ein u. in das ewige Gedenken, das sich an Ihren Namen knüpfen wird. Er hat wohl selbst kaum gedacht, dass das Öffnen eines Briefes so leicht zur Unsterblichkeit führen kann! Uns zwei herzhafte Deutsche aber kann es nur freuen, dass alle Mann an Bord so gewissenhaft ihren Dienst verrichten. – Ja, es sind || grosse Tage, in denen wir leben und auch mein geliebtes Österreich schreitet von Sieg zu Sieg. Wer aber hätte gedacht, dass Belgien, Frankreich u. England sich eines Tages wirklich in die Front mit den Barbaren stellen könnten?

Als gestern der zweite Sieg bei Metz bekannt wurde, stand es wie ein einziges Dankgebet in allen Mienen – ! – Innig freut es mich, Sie so gesund u. rüstig zu wissen. Mir ging es nicht gut. Ich hatte mich überarbeitet und statt auf dem Lande Ruhe u. Erholung genießen zu können, mußte ich wieder in die heiße Stadt zurück –. Aber hier empfing mich am 14. so viel Liebe u. Dankbarkeit, dass ich nicht weiß, wie ich diese Schuld abtragen soll.

Ihnen, Verehrtester u. Unvergesslicher jedenfalls zuerst –!

Ihre M. E. delle Grazie.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.08.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 43
ID
43