Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin], 30. April 1865, mit Nachschrift Charlotte Haeckels
Den 30 Aprill 65a.
Lieber Ernst!
Auf Deinen Brief von vorgestern folgende Antwort: Wenn der Ruf von Würzburg an Dich gelangen sollte, so magst Du die Sache wohl überlegen. Der Ruf kann vielleicht für die Entwikelung Deines Faches, was Du als Professor treibst, sehr günstig sein, er kann Dich in dieser Entwikelung sehr fördern und Dich darinn sehr vervollkommnen, Dich darinn tüchtiger machen. Gewinntb er aber diese Präponderanz, dann bist Du auch nicht mehr Meister Deiner innern Gemüths und sittlichen Entwikelung. Er kann Dich zugleich in äußere Verhältniße bringen, die überwiegend schädlich auf Dein Innres einwirken, in Familien Verhältniße, die Dich mit sich fort reißen, sodaß Du auf Wege geräthst, die Du früher nicht geahnt hast. Wie ist es denn mir ergangen? ich bin zeitig Witwer geworden und Gott hat mich allerdings die besten Wege geführt. So gelingt es nicht allen, und wenn ich auf mehrere, frühere Bekannte zurüksehe, so ist es manchen gar übel ergangen und sie sind in Lagen und Verhältniße gerathen, in die sie gar nicht wollten und wohin sie fast gewaltsam fortgezogen wurden, was sie dann späterhin sehr bereuten. Darum warne ich Dich jetzt. Deine Verhältniße in Jena sind jetzt dort für Deine innre gemüthliche und sittliche Entwikelung so günstig, wie man sie nur wünschen kann. Du hast dort so liebe Freunde, die recht dazu geeignet sind, Dir Dein inners Verhältniß zu Deiner Anna recht consolidiren zu helfen || so daß etwas Ewiges und Dauerndes daraus wird. Das ist ein unendlicher Gewinn für Dein ganzes Leben und hast Du erst diesen errungen, dann kannst Du ganz ruhig allen künftigen Ereignißen, die sich Dir darbieten werden, entgegen sehen, du wirst dann ihrer Meister sein, Du wirst nicht von ihnen fortgerißen werden, sondern Du wirst sie modeln, regeln und beherrschen. Darum wünsche ich c dringend, daß Du jetzt in Jena bleibst und es nicht verläßt. Es kann Dir gar nicht entgehen, daß wenn Du dem Jenaschen Curator Deinen Ruf anzeigst und Dich zum Bleiben in Jena bereit erklärst, falls Du als ordentlicher Professor in die Fakultät aufgenommen wirst und als solcher ein angemeßenes Gehalt erhältst, dieses geschehen wird. Folge also dem Rath Deines alten erfahrenen Vaters. Es ist ein Herzenskummer für mich, den Du beschwichtigen kannst.
Was mein körperliches Wohlsein betrifft, so muß ich doch annehmen, daß es im Fortschreiten begriffen ist. Ich kann gut marschirn, ich gehe täglich früh ½ Stunde im Zimmer und 2 Stunden im Freien. Das Gehen wird mir nicht schwer, aber es greift doch an, wenn man täglich so viel geht. Quinke war vor 1 Stunde bei mir und erklärte, meine jetzige Krankheit sei keine Alterskrankheit ich könnte sie ebenso gut haben, wenn ich 40 Jahr jünger wäre, sie komme und gehe, in meinem Alter aber gehe das nicht mehr so rasch, sondern langsamer. Darin müße ich mich finden. Gegen 9 Uhr pflege ich schläfrig zu werden. Wenn diese Schläfrigkeit kommt, darf ich sie || nicht beseitigen, sondern muß ihr folgen. Denn dann habe ich wohl gute Nächte und fühle mich früh beim Erwachen gestärkt. Ich bin aber auch nicht ganz sicher vor schlaflosen Nächten, wo dann die Schlaflosigkeit zum Theil Folge des Alters ist. Auch solche habe ich schon gehabt.
Du arbeitest ja d sehr viel, ich wünsche nicht, daß Du Dich dabei übernimmst und Dir für die Zukunft schadest. Aber Du mußt mir auch noch größere Details geben, wie es in Deiner jetzigen Wohnstube aussieht, wie Tische und Stühle stehen, wie die Bilder hängen, wie es beim kleinen Diner aussieht und zugeht? und eben so wie bei Deinen Freunden? Ein Paar Mahl die Woche gehst Du wohl auch an die Table d’hôtes? Wen triffst Du da, was treibt ihr da? Politisirt e ihr? Dazu ist jetzt viel Stoff vorhanden. Die nördlichen Italiener wollen meines Erachtens das richtige, ein einheitliches nördliches Italien, das dem Fortschritt huldigt, der Pabst mag sein Wesen in Rom treiben, wo er nicht schädlich wird und den ja selbst Napoleon erhalten will. Der H. v Schmerling mag sich in Acht nehmen, daß er die Sachen nicht zu weit treibt. Er will etwas Unnatürliches, was am Ende von selbst zerfällt. Hier kann jetzt H. v. Bismark seine Künste versuchen. Er wird aber bald sehen, daß er ohne die Zustimmung und Hülfe unsers Volks nicht weit kommt und darnach seine Politik einrichten müßen.
A Dieu für heut.
Dein Dich zärtlich liebender
Vater Hkl ||
[Nachschrift Charlotte Haeckels]
+ stettiner Bahnhof, seine Mutter abzuholen, die bei Tante Gertrud wohnen wird. Uebermorgen erwarte ich Ottilie Schubert, die ihre Schwester Tonie, die zum Besuch auf einige Zeit zu Giesels kommen wird, herzubringen. – Ottilie wird bei uns wohnen. Morgen haben wir den 1sten November, so rücken wir denn der Zeit näher wo ich dich wieder hier habe, das wird für mich ein Glanzpunkt sein; Karl denkt bei Deinem Hiersein auch auf einige Tage zu kommen. – Gott sei mit Dir. Mit der innigsten Liebe umarmt Dich
Deine Mutter ||
Die herzlichsten Grüße an Deine Freunde. –
a irrtüml.: 64; b gestr.: Gewährt; eingef.: Gewinnt; c gestr.: Du; d irrtüml. doppelt: viel; e gestr.: ist hier