Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Von Carl Gottlob Haeckel, Berlin, 19. Mai 1859, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 19 Mai 59.

Mein lieber Ernst!

Wie haben nun 2 Briefe von Dir gehabt, einen, welcher die Besteigung des Vesuvs, den 2ten, welcher Deine Reise und Aufenthalt nach Capri beschreibt. Beide haben wir mit dem höchsten Intereße gelesen. Wir freuen uns Deiner Naturgenüße und gönnen Dir die Begünstigungen, die Dir auch das Wetter dabei verschaft hat. Aber ich muß Dich wiederholt und aufs neue und ernstlichste warnen, dabei nicht so tollkühn zu sein, wie Du es ins besondere auf der Insel Capri bei dem Verfolgen der Palmen und früher schon öfterer in den Alpen gewesen bist. Es ist für Dich eine heilige Pflicht, Dich nicht so unnütz in Gefahren zu begeben, bei denen Du leicht verunglüken kannst. Wenn Du umkämest, so würdest Du das Leben 2er Dir sehr geliebter Wesen, Deiner Mutter und Anna’s zerstören und sie elend machen. Was mich betrift, so habe ich a bei meinem Alter nur noch kurze Zeit zu leben und ich könnte einen solchen Verlust in Erwartung baldiger Wiedervereinigung am allerersten überstehen. Aber ein noch längeres Leben 2er so geliebter Wesen zu zerstören wäre von Dir unverantwortlich. Dieses zur Warnung ein für alle Mahl!

Hier haben wir inzwischen auch ein bedeutendes Ereigniß erlebt. Humbold ist am 6ten dieses gestorben und mit allen Ehren beerdigt worden. Der Prinz August sah dieses Ereigniß als die königliche Familie besonders angehend an, er wurde also mit wahrhaft königlichem Pomp begraben. Die andre Seite des Zugs bildete die Theilnahme des Volks, die eigentlich nur der vollständig beobachten konnte, der sich gehend im Zuge befand. Ich war mit Ottilien auf das Zoologische Museum gegangen, wo uns Martens empfing und von wo aus wir nur das Pomphafte des Zugs sehen und beobachten konnten, die Theilnahme des Volks zeigte sich mehr in den Straßen, welche der Zug paßirte, inb die Oranienburger, Friedrichstraße und unter den Linden bis zur Domkirche. Die zuschauende und theilnehmende Bevölkerung soll sehr groß und ihr Betragen sehr würdig gewesen sein. Uns fiel hauptschlich der Pomp des Zugs, die vielen königlichen Galla Wagen, dann die folgende Geistlichkeit, Universität, Akademie, Studenten,c Schüler, Generalität, Minister und höhere Beamte und eine unabsehliche Menge von Trauerwagen aufd, welche dem Zuge folgten, wohl an 100, e der Zug wollte gar kein Ende nehmen. f Den Sarg, welcher von königlichen Pferden gezogen wurdeg, begleiteten Studenten, welche Palmzweige trugen. Der Sarg war ganz einfach von Eichenholz. Die theologische Fakultät hat sich vom Zuge ausgeschloßen, eben so die nicht unionistischen Geistlichen (die Mehrzahl hier in Berlin). Die Domgeistlichkeit empfing den Zug an der Domkirche und nahm nur von Amts wegen, nicht freiwillig Theil. Nicht Sydow, wie es Humbold gewünscht hatte, sondern der Oberhofprediger Hoffmann hielt die Gedächtnißrede in der Kirche, den großen Verdiensten in den Wißenschaften, den Aufopferungen des Verstorbenen für dieselben nicht angemeßen, die Rede soll etwas geschraubt, den Mangel an christlichem Glauben des Verstorbenen sehr verdekend und entschuldigend gewesen sein. Du kennst meinen christlichen Glauben, fern von aller Orthodoxie und allem Buchstabenwesen. Ein Mann, der so tief in die Natur eingedrungen war und sich den größten Theil seines Lebens mit der Erforschung des Weltalls beschäftigt hatte wie Humboldh, kann unmöglich ohne eine tiefe Ahndung des göttlichen Wesens gewesen sein. Ich gebe zu, daß der unersättliche Drang nach Wißen und Verstehen, wie ihn Humbold hatte, die andere Seite des menschlichen Geistes, das Gemüthsleben, sehr in den Hintergrund drängen kann, aber auch in dieser Hinsicht hatte Humbold viele Proben eines liebenden Herzens, eines hülfreichen Menschen (und das ist ein Haupt Charakterzug des Christenthums) gegeben und es zeugt von großer Beschränktheit unserer sogenannten heutigen christlich Gläubigen das Wesen des Christenthums in diesen positiven Glauben setzen zu wollen. Die Bedeutung Christi auf Erden, von dem die Civilisation der Menschheit seit beinah 2000 Jahren ausgegangen, kann doch Humbold unmöglich verborgen geblieben sein, wenn auch das irdische Wißen und Erkennen bei ihm das Uebergewicht hatte. Aber Eine Seite, das || Erkennen Gottes in der Natur muß doch vorzugsweise in ihm ausgebildet gewesen sein, es ist unmöglich, sich fast täglich mit der Erforschung des Weltalls zu beschäftigen, ohne zu Gott dem Schöpfer und Erhalter aller Dinge hingezogen zu werden. Daß eine Menge fabelhaber und wunderahndender Vorstellungen von Gott verschwinden, versteht sich von selbst. Aber wer nur die allmählichen, stufenweisen Entwikelungen des Erdkörpers, wie sie uns durch die Erforschung des Erdkörpers angedeutet werden, verfolgt, muß über die gewaltigen Kräfte, welche aus dem Chaos die Ordnung und das Geistesleben der Menschheit entwikelten, erstaunen und zuletzt den Urquell alles Lebens, Gott, anstaunen. Eine ganz andere Welt ist freilich die des innern Gemüthslebens, die sich im Zusammentreffen mit Menschen und in dem menschlichen Zusammenleben entwikelt, und die ungeheure Entwikelung, welche durch Christum in der Menschengeschichte erfolgt, ist freilich wieder unbekannt und verborgen. Ich habe, noch gestern am Bußtage eine Predigt von Sydow gehört, die das Wesen der Buße auseinandersetzte. Die kann man freilich nur verstehen, wenn man das Bewußtsein der Sünde und die göttliche Hülfe aus derselben, die Begnadigung genannt, selbsti erlebt hat. Wie der Mensch sich der innersten Nichtigkeit seines irdischenj Strebens, wie es bei Millionen überwiegend ist, und des Unbefriedigenden desselben bewußt wird, wenn er selbst Reue darüber empfindet, daß er sich diesem Streben überlaßen hat, wenn ihm das Gefühl des Erbärmlichen und des irdischen Schmutzes durchdringt und daneben ein reines, höheres, göttliches Gefühl, was uns in jenes künftiges Leben, in die Ewigkeit versetzt, in ihm aufsteigt, dann ist Buße und Gnade fast in demselben Moment in dem innersten Menschen vorhanden, sie bedingen sich und das versuchte Sydow gestern auseinander zu setzen und klar zu machen, nach seiner Art, nicht ohne Wiederholungen, aber für mich befriedigend. Humbold hat in den letzen Jahren mitk Sydow öfters Unterredungen und dieser wird nicht unterlaßen haben, ihn auf das Innerste l Wesen des Christenthums hinzuweisen. Humbolds Familie, die sich sehr dem Orthodoxismus zuneigt, hat dieses aber nicht für hinreichend gehalten und ihm, um ihn auf den nach ihrer Ansicht nachm richtigen Weg zu führen, Hoffmann zugeschikt und dieser hat dann in der Gedächtnißrede erwähnt, daß sich Humbold bei solchen Gesprächen und Erörterungen schweigend, und auf das rechte Verständniß nicht recht eingehend verhalten habe, er sei nicht gläubig gewesen, und der wahre Glaube werde ihm wohl im Jenseits kommen. Da haben wir n ganz klar ausgesprochen die innre Krisis des innern menschlichen Lebens oder vielmehr der jetzigeno christlichen Anschauungsweise, in der wir auf die Länge nicht bleiben können und aus welcher wir uns durcharbeiten müßen. Man muß ein solches Leben innrer Kämpfe und Erfahrungen gehabt haben wie ich, um das Christenthum in seiner innersten Bedeutung spüren zu lernen, ich sage spüren, denn nur der, wer vom innern göttlichen Leben tiefer durchdrungen ist, als ich (ich habe nur anklopfende Momente) kann sagen, daß er es fühlt. Es ist in den innersten Offenbarungen Christi etwas überirdisches, was uns in jenes Leben versetzt; daß aber die Welt, p das Leben der Menschheit, nicht zusammenstürzt, sondern gedeiht und vorwärts geht, sei es auch noch so unvollkommen, das verdanken wir dem Christenthum. Unsere Civilisation, unser menschliches Fortschreiten, ist ein ganz andres als das der Alten oder der Hindus oder der Chinesen, und wenn Du z.B. das nichtige Treiben Deiner Begleiter auf der Fahrt nach Capri erkennst und etwas höheres willst, so verdankst Du dieses dem Christenthum. Plato und Sokrates waren schon nahe daran, in Christo kam diese Ahnung des Ewigen erst zum vollständigen Durchbruch, durch ihn wurde sie ein Gemeingut der Menschheit und wenn wir jetzt in dem Geringsten und Niedrigsten den Menschen achten und uns bemühen ihn aufzurichten, so verdanken wir dieses dem Christenthum, welches das Reich Gottes auf Erden gründen, d.i. die Menschheit aus dem gemeinen Schmutz des Lebens herausziehen und sie zum Rechten, Guten und Schönen erziehen will. Christus hat das Göttliche nicht in uns gelegt, das hat Gott gethan, aber er hat es am tiefsten ergründet, den göttlichen Kern zur reifen Frucht zu entwikeln gesucht, und zwar auf die populärste Weise, damit die ganze Menschheit daran Theil zu nehmen fähig sei. – ||

Die Angelegenheit des Tags ist der italiänische Krieg und Preußen wird vorläufig nicht daran Theil nehmen, ich glaube, Du wirst noch einige Monate p ruhig in Italien bleiben können. Sobald sichr aber ein Uebergewicht Frankreichs in Italien herausbilden sollte, wird Deutschland und Preußen schwerlich ruhiger Zuschauer bleiben. Dagegen glaube ich nicht, daß man ein drükendes Uebergewicht Oesterreichs in Italien vertheidigen wird. So vermuthen wir, denn wir können nicht in die Charten der Regierungen sehn. Halte Dir nur das Loch offen, daß Du noch zeitig genug aus Italien heraus kannst. Nach Deinen Reisepapieren glaube ich es für jetzt noch ruhig abwarten zu können, bis man Dich ruft. Von eigentlicher Mobilmachung ist noch nicht die Rede, diese würde wohl erst eintreten, wenn der Krieg vor der Thüre wäre. Aber die Aktion fängt ja jetzt in Oberitaliens erst an und die Sache dürfte hoffentlich so schnell gehen, daß schon in nächster Zeit eine Entscheidung zu hoffen wäre. Karl wird vorläufig auch neu aufgezeichnet, um, wenn Mobil gemacht wird, einzutreten d.i. als Landwehrofficier ein Ersatzbataillon einexerciren und ausbilden zu helfen, wobei er dann auch seine Turnkünste in Anwendung zu bringen glaubt, da die Recruten auch turnen sollen.

Mutter erholt sich allmählich immer mehr, sie geht zu Bertha hin und zurük und fängt an zu baden, da es jetzt erst dauernd warm zu werden beginnt. Der Pankratius und Servatius sind noch sehr streng gewesen und erst seit einigen Tagen beginnt der Sommer, nachdem wir schon vor 14 Tagen mehrere warme Tage hatten, die mit einem Gewitter endigten, auf welches wieder ruhige Tage folgten. Ottilie wird Anfang Juni nach Schlesien zurükkehren, ihre Tante Bella wird herkommen und sie abholen. Tante Bertha ist munter, Theodor kränklich, es handelt sich in diesen Tagen darum, ihn vom Militär ganz los zu machen. – Unsere Kammern sind seit einigen Tagen geschlossen und im vollsten Einverständniß mit der Regierung über die äußere Politik, wie ich sie oben angedeutet, auseinander gegangen. Besonders die 2te Kammer hat sich im ganzen Verlauf der Session sehr würdig benommen. Gestern ist der König aus Italien angekommen – Martens besucht uns öfters, wir theilen ihm Deine Briefe mit. – Mutter wird noch einige Worte hinzufügen. Dein Alter Hkl.

Ich habe in den letzten 8 Tagen fast nichts gethan als Humbolds Kosmos gelesen. Der 2te Band fehlt. Hast Du den mit nach Italien genommen? Ich habe nun einen Ueberblik über dieses Buch. Manche Kapitel z.B. das über den Erdmagnetismus verstehe ich gar nicht. Das Hauptfach Humboldts war doch Physik (physische Geographie), in den übrigen Fächern hat er starke Hülfen gehabt. Aber das Ganze der Naturwißenschaften in ihren gegenseitigen Beziehungen und zur Aufklärung des Ganzen zusammenzufaßen, seine Combinationsgabe, war sein ganzes Verdienst und welche ungeheure Gelehrsamkeit!!!

[Beischrift von Charlotte Haeckel]

Mein lieber Herzens Sohn! Daß Dir es so wohl geht, freut mich herzlich und daß Du so viel Schönes von Gottes Welt siehst; aber geniesse es auch so, daß Du immer ohne Reue an diese schöne Zeit denken kannst. Mir fehlst Du sehr, und meine Gedanken begleiten Dich immer. Ich kann nur für Dich beten, und Gott möge mein Gebet für Dich erhören. Vor 8 Tagen war abends Frau Professor Weiß mit ihren 3 Neffen den Brüdern Weiß (Ernst, der Pastor u. d. Bauer) und Beyrichs bei uns, und es wurde Deine Vesuv Besteigung vorgelesen. Sie lassen Dich ganz herzlich grüssen. Nun lebe wohl und behalte lieb Deine alte Mutter.

Wir denken Pfingsten nach Freienwalde zu gehn, und dann wird Anna wohl mit uns herkommen.t

Philipp Bleek hat eine Anstellung auf einige Monate alsu Schiffsarzt auf einem englischen Dampfschiff, das zwischen Buenos Aires und Rio Janeiro fährt.u

[Adresse]

Al Signore Ernesto Haeckel di Berlino | per Adress. Signore Ernesto Berncastel | Farmacia Prussiana, | Largo S. Francesco di Paola N. 7. | Napoli (Italia) | (via Marseille)

a gestr.: nur; b eingef.: in; c eingef.: Universität, Akademie, Studenten; d eingf.: auf; e gestr.: auf; f gestr.: Der von; eingef.: Der; g eingef.: welcher von königlichen Pferden gezogen wurde; h eingef.: wie Humboldt; i eingef.: selbst; j eingef.: irdischen; k eingef.: mit; l gestr.: des Chr; m eingef.: nach; n gestr.: mit; o eingef.: jetzigen; p gestr.: jetzt; q gestr.: davon Th; r eingef.: sich; s eingef.: Ober; t Text weiter am linken Rand von S. 3: Wir denken … uns herkommen; u korr. aus: auf; v Text weiter am linken Rand von S. 1: Philipp Bleek … Janeiro fährt.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
19.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Neapel
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 42769
ID
42769