Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Freienwalde, 3. Juni 1857, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Freyenwalde 3 Juni 57.

Lieber Ernst!

Wir sind seit Freitag hier und bleiben bis Sonnabend. Es herrscht hier große Dürre, seit 4 Wochen kein Regen, was für die Mark sehr schlimm ist, die immer viel Regen braucht. Doch stehen die Winterfrüchte schön. Vorige Woche war es sehr heiß. Dann kam am Sonnabend ein so böser Norda Ostwind, der sich am Sonntag zum unerträglichen steigerte. Wir fuhren Sonntag Nachmittag mit Aegidis nach Sonnenburg zu Georg, konnten es aber im Freien nicht aushalten. b Es war ganz hübsche Gesellschaft da und wir fuhren erst gegen Mitternacht bei schönem Mondschein nach Hause. Die Nacht war sehr kalt. Wir leben hier mit unsern Kindern sehr gemüthlich, Minchen aus Stettin ist hier, der bei ihrem großen Verlust dieses Leben unter den Kindern sehr wohl thut. Anna ist in Posen um Helene zu pflegen. Das Wetter war in diesen Ferientagen sehr hell und wolkenlos, wurde aber erst am 2ten wieder wärmer. Ich mache hier meine Frühpromenaden allein, arbeite dann an meiner Lebensgeschichte und bin in den Feldzug im Frühjahr 1814 in Frankreich sehr vertieft. Dann eßen und plaudern wir zusammen, gegen Abend wird ein Spatziergang in corpore gemacht, Carl und ich gehn dann weiter in die hiesigen schönen Wälder und Abends sitzen wir wieder zusammen und plaudern.

Ich möchte gern, da ich noch lebe, Dir und Carl noch eine Freude machen mit einer Reise, die aber höchstens 200 rℓ. kosten darf. Carl hat Dir darüber geschrieben und Du wirst ihm nun vollständig antworten. Ich gedenke bald nach dem 20 Juli mit Mutter nach Warmbrunn zu reisen und spätestens Ende August wieder nach Berlin zurükzukehren. Ich möchte gern Mutter auf der Rükreise Breslau zeigen und über Waldenburg und Freyburg dahin reisen. Im September wird es schon zum Umzug viel zu thun geben und Du wirst dann auch wieder zurük sein müßen.

Deine Briefe sind alle eingegangen, sie reichen bis zum Sömmering, den Du nebst der Eisenbahn wohl auch beschreiben wirst. Du hast ja ein schönes Alpenleben genoßen und Dich an der Frühlingsnatur sehr erquikt. Das ist doch ein großes Gut, was uns Gott mit auf dieses Erdenleben gegeben hat, der Genuß an der schönen Natur, || wofür auch ich so empfänglich bin. Die Menschen verleiden durch ihre Leidenschaften, durch ihre Bornirtheit c, Einseitigkeit und Dummheit so das Leben aufs mannigfaltigste, daß ein Rükblick auf Gottes Schöpfung und eine Erquikung daran wahrlich Noth thut. Doch auch so weis er das Erdenleben seinem bestimmten Ziel entgegen zu führen und alle Dummheit und Schlechtigkeit kann es nicht aufhalten, unbemerkt und im Stillen entwikelt sich alles weiter und macht sich dann nöthigenfalls durch Explosionen Platz. Daß Dich die Physiologie so anspricht und Du noch ein Colleg bei Ludwig zu Stande gebracht hast, freut mich sehr. Du mußt Dir aber auch an den nöthigen Lebensbedürfnißen und Erholungen nichts abgehn laßen. Reicht das Geld nicht so werde ich zuschießen und wenn Du vor August noch dergleichen brauchst, so schreibe es, sonst bringt es Carl mit. Es kommt nun darauf an, daß Du eine recht zwekmäßige und genügende Tour zu Eurer Reise wählst. Da Du das Terrain schon kennst, so kannst Du die zwekmäßigsten Vorschläge machen. Ich werde mich auf Warmbrunn und Schlesien beschränken. Ich lebe mehr in der Vergangenheit, die allerdings sehr intereßant war und mahle mir manchmal die Zukunft aus, die Ihr, wenn Gott Euch das Leben schenkt, noch erleben könnt. Da wird sich der Himmel wohl wieder aufheitern. Jetzt ist das elendeste Philistergetriebe was man sich denken kann. Aber auch der Unsinn muß seine Zeit haben, sich darzustellen, um dann, der auf die Länge in sich unhaltbar ist, desto gewißer zu verschwinden. Ich habe die schöne Zeit erlebt, wo sich einmal ein ganzes Volk zusammennahm und durch Opferbereitschaft große Dinge vollbrachte. Jetzt sind wir in dem Schlendrian des Genußes, des Egoismus und in romantisch feudalistischem Unsinn versunken. Meine Lebensbeschreibung hat mich in die Kriegszeit von 1813/14 versetzt und ich habe die Kriegsoperationen ordentlich studirt. Aber sie haben gar nicht isolirt da gestanden, die Politik hat eine große Rolle gespielt, die größte aber der liebe Gott selbst, dem auch die damalige Beschränktheit menschlicher Leidenschaften zu seinem || Ziele hat dienen müßen. Wenn man die damaligen Ereigniße zusammen nimmt, so kann man nur ausrufen: Gottes Führungen sind wunderbar. – Ich will für heute schließen. Sonnabend denken wir wieder in Berlin einzutreffen und dort Deine weitern Briefe zu erwarten. Dein Alter

Hkl.

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Mein lieber Ernst!

Für heute von Deiner alten Mutter nur den Herzinnigsten Gruß. Viel denke ich an Dich, besonders hier bei den kleinen Putsels, die uns viel Spaß machen. Wie sehr freue ich mich, daß Du so viel Schönes siehst, geniesse es nur recht. Richthoven ist heute vor 8 Tagen nach Berlin gekommen, || vom Bahnhof kam er zu uns, da wir nicht zu Hause waren, hatte er nur Deinen Brief abgegeben; Donnerstag kam er wieder und blieb bei uns zu Mittag, er meinte, wenn er uns auch getroffen, würde er doch bei seinem Bruder gewohnt haben, um den zu geniessen. Ade

Deine alte

Mutter.

a eingef.: Nord; b gestr.: Gegen; c gestr.: und Dumm

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
03.06.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 42763
ID
42763