Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 5. September 1854, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 5 Septemb.

54.

Lieber Ernst!

Ich habe Dir lange nicht geschrieben, weil ich in Kiel gewesen und nach meiner Rükkehr Mimi mit Anna traf, die gestern nach Ziegenrück abgereist sind. Adolph war bei meiner Abreise in Kiel viel beruhigter. Indeß ist doch noch eine große Aengstlichkeit, Furchtsamkeit und Unentschloßenheit in ihm vorhanden, die wirklich krankhaft sind und aus seinen körperlichen Zuständen herkommen. Die Anstalt selbst hat mir sehr wohl gefallen. Sie liegt etwa ¼ Stunde südlich von der Stadt auf einer Anhöhe, von der man eine sehr schöne Aussicht auf den Kieler Haven hat, auf der andern Seite ist sie durch einen schönen Buchenwald begränzt. Die Häuser der Anstalt liegen mitten in einem anmuthigen Park, ein besondres Herren- und ein besondres Damen-Haus. Die Kranken sind sehr verschiedenartig, von allen Stadien. Adolph gehört zu den untersten leichtestena Stadien, er ist sich seines Zustandes vollkommen bewußt, aber seine geistige Kränklichkeit benimmt ihm alle Energie des Handelns. Ich glaube, daß er wohl den kommendenb Winter dort wird aushalten müßen. Er liest, spatziert im Garten und auch in der Stadt umher, wird sich auch körperlich beschäftigen müßen. Im Hause ist ein Billard, wo die geringern Kranken zusammen spielen und zusammen kommen, um sich zu unterhalten. Ich bin mit Adolph in 1 Tage (50 Meilen) nach Kiel gereist per Eisenbahn, habe dort auch mehrere Bekannte getroffen, unter andern den Advokat Lehmann, einen Freund von Carl, mit dem wir zusammen auf dem Righi waren. Ich blieb beinah 3 Tage in Kiel und reiste dann nach Hamburg, wo ich mich 2 Nächte aufhielt. In Hamburg habe ich am Alster Bassin gewohnt (am Jungfernstieg) wo es sehr schön ist, bin dann einen ganzen Tag in Hamburg umhergelaufen, habe viele (zum Theil sehr schlechte alte) Straßen durchwandert, die Börse und den Haven und den Wall um die Stadt (die Promenade) besucht, auch Altona, wo ich Madame Söftig, mit der wir in Töplitz zusammen waren, aufsuchte und die sich gleich nach Dir erkundigte. Den Morgen darauf reiste ich wieder hieher. – Als Carl von Heringsdorf zurükkam, wurde er durch Adolphs Krankheit, den wir immerfort bearbeiten mußten, sehr in Anspruch genommen. Er hat auf der Rükreise Naumburg und Zeitz besucht und wird nun doch auf eine Versetzung bedacht sein, zu einem besetzten Gericht, wo er größere Muße hat und an einen Ort, wo er uns mit seiner Familie leichter erreichen kann. Der Brunnen schienc ihm und auch Mimi das Bad gut bekommen zu sein.

Anna ist mit nach Ziegenrück. Da Carl jetzt in den ersten 8 Tagen mehrere Geschäfte vorfindet und auch der Bau noch nicht ganz in Ordnung ist, so werde ich mit Mutter diesen Herbst nicht hinreisen, es wird aber Carl große Freude machen, Esmarch, dem ich mich bestens empfehle, bei sich zu sehn. Esmarch bitte ich zu sagen, daß ich seinen Schwager Herrn v. Wartenberg in Hornheim (so heißt die Anstalt bei Kiel) nicht hätte sehen können, weil es der Arzt nicht für gut hielt, auch wird die Kur wohl längere Zeit dauern. Hat denn Esmarch den Ruf als Profeßor des römischen Rechts nach Krakau angenommen? – Großvater ist sehr munter und auch Bertha ist in der Beßerung. || Daß Dir Dein dortiger Aufenthalt so viel Intereße gewährt, freut uns sehr. Genieße ihn nur recht und schreibe uns, ob Du noch Geld brauchst. Gehst Du auch mit Herrn Wehber aus Hamburg um? Vernachläßige ihn nicht und wenn Du Geld brauchst, so schreibe uns, ob wir es Dir nach Helgoland oder nach Aurich oder nach Hamburg (im letztern Falld wohl am besten an Herrn Wehber, deßen Wohnung Du wohl erfahren und mir anzeigen wirst, ich bin in Hamburg bei ihm gewesen, habe aber die Wohnung vergeßen (ich glaube nicht zu irren, Katharinenstraße N. 7.)

Wenn ich jetzt das Getriebe in der Welt sehe, so wird mir manchmal ganz wirr zu Muthe. Das Alter kann sich in die neue Welt nicht recht finden: der ungeheure Verkehr der Völker unter einander durch Eisenbahn und Dampfschiffahrth, die großen Fortschritte in den Naturwißenschaften, der Kampf in Europa zwischen Freiheit und Despotismus, des Westens gegen den Osten, der Civilisation gegen das Slaventhum! Was werdet ihr Jüngeren nicht alles erleben, und was hat Gott alles mit der Welt vor? Wir Alten leben hier in einer drükenden Schwüle und sehen noch nicht die MorgenRöthe des neuen Tags! Gott gebe Euch nur Vernunft, Rechtschaffenheit und Besonnenheit. – Wilhelm Bleek ist noch in London, es ist gut, daß er nicht an der Goldküste geblieben, die Luft soll dort für den Europäer beinah pestartig sein, das hatte auch der Schiffskapitän von Ernst Reimer, der in diesen Tagen zurükerwartet wird, geäußert. Bleek wird nun versuchen, eine andre Reise zu machen. Wann wird an Dich die Reihe kommen? Wie bekommt Dir das Bad? Wir haben jetzt seit 10–12 Tagen schönes Wetter gehabt. Das wird auch Dir sehr zu statten kommen. Mutter ist ziemlich munter und besucht alle Abend den Papa von 7–9. Um 9 Uhr gehen wir nach Hause, wo wir aufbleiben, da Grosvater um 10 Uhr zu Bett geht.

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Vaters Brief an Dich, mein Herzens Junge, kann doch unmöglich abgehn ohne einen Gruß von Deiner Mutter. Schicke uns nur immer Stücke Deines Tagebuchs, was uns große Freude macht, ich muß sie auch immer Großvater vorlesen, der Dich herzlich || grüssen läßt. An Tante nach Aurich habe ich geschrieben, daß Du sie besuchen würdest. In unserm Hause ist es nun wieder sehr still, der kleine Karl hatt sehr zugenommen und ist schon sehr drollig, ich mußte immer denken, welche Freude Du an Deinem Pathchen hättest, wenn Du hier gewesen wärst. Auch Hermine ist das Baden sehr wohl bekommen, sie hat sich sehr erholt. –

Nun, leb wohl, mein Herzens Sohn, halte Dich gesund und munter, und denke fleissig an

Deine

Mutter.

Tante Bertha ist doch endlich auf der Besserung. – ||

Jacobis waren einen Tag hier auf der Rückreise, Helehne schlief mit Anna in Deiner Stube, Vater in der Logirstube, Hermine etc. bei uns in der Schlafstube. Helehne war in der Schweiz krank geworden, und sah noch übel aus.

a eingef.: leichtesten; b gestr.: diesen; eingef.: den kommenden; c korr. aus: schienen; d gestr.: ,

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.09.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Helgoland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 42758
ID
42758