Clara Willrath-Schelper an Ernst Haeckel, Guben, 18. Februar 1909
C. W.-S.
Villa Baro
Guben, den 18.|2.9.
Verehrter Herr Professor!
Und nun sich der Schwarm verlaufen hat – komme ich, und lege Ihnen herzliche Wünsche und Grüsse zu Füssen. Was wir Ihnen wünschen, wünschen wir uns, wünschen wir der ganzen deutschen Nation: blei-||ben Sie uns noch recht lange frisch und schaffensfroh, lieber Ernst Haeckel und lachen Sie über die Fünfundsiebzig, wie man über ein lustiges Märchen lacht, das einem das Leutevolk halt einreden will.
Von der poetischen Sendung, über die Ew. Hochwohlgeboren erst wohl || ein wenig das gelehrte Näslein rümpfen, erhoffe ich doch, daß sie Ihnen, verehrter Herr Professor, ein wenig Spaß macht. Und wenn es der Fall ist, dann, Herr Professor, dann senden Sie mir Ihr Bild, ja? Ich wäre Ihnen von ganzem Herzen dankbar! ach so, Phronema Du wurdest geboren in || Sensorimus engem Raum; da rechnet man ja nicht mehr mit dem gefühlvollen Muskel Herz.
Leben Sie wohl, verehrter Großer.
Ergebensten Gruß
Ihre
Clara Willrath-Schelper
[beigefügt: Gedicht]
Genesis.
Früher hab ich auch zuweilen
Mal ein Käferlein zertreten,
denn die fetten, braunen Gäste
kamen mir oft unerbeten.
Hab das Fliegenzeug getötet,
habe Ratten totgeschlagen,
und ich sah das Viehzeug fallen
ohne groß darum zu klagen.
O wie bin ich jetzt verwandelt,
Seit ich Haeckel nun gelesen,
Tief errötend, schaudernd steh ich
Weil ich gar so grob gewesen.
Meiner eigenen Verwandtschaft
Tat ich diese Greuel an,
– Will mich jetzt ein Flöhchen beissen
Sag ich: bitte, lieber Ahn!
Clara Schelper ||
An meinen Jungen!
Ja, Bub, als ich ein kleines Mädel war,
da hat man mir so viel, so viel erzählt,
daß mir mein Köpfchen noch vom Hören brannte.
So viele Märchen hab ich da vernommen,
Ach, wundervolle, bunte Kindermärchen!
Man hat mir auch vom lieben Gott erzählt,
Von seiner Liebe – und von seinem Sohn,
der in die Welt gekommen ist für uns,
Uns zu erlösen. – –
Ich lernte beten, lieber kleiner Junge,
Als ich ein Kindlein war. Ich betete
Um alles, was ich mir nur jemals wünschte:
Um Puppen, Bücher und Schleifenendchen,
Und hat ein Tag des andern Wunsch erhört
So betete ich wieder um zu danken.
Dann kam das Leben und das Vorwärtsstreben
– Nach Licht, nach Wissen, nach der grossen Freiheit –
Und nahm mir lächelnd meine bunten Märchen.
Der liebe Gott da oben half nicht mehr.
Er trug in Gottesgleichmut unser Leid
Und ließ geschehn, was wir geschehen liessen. ||
So rang ich mich durch meine Märchenträume,
durch meinen Gottesglauben zu mir selbst
Und schuf mein Ich zu jener Denkerkraft
des Irdischen. Ich wurde mehr als Ich –
ein Schöpfer meiner eignen Lebensfreuden,
Ein Tröster meines Leides und ein Retter
Aus meiner eignen Hoffnungslosigkeit.
Und der das rief: Das Wahre, Gute, Schöne
Sei Dir ein Gott für Deine Lebenstage!
Gab meinem Leben eine stolze Richtung.
Die ging hinauf in jene Lebenshöhen
Wo Klarheit die erhitzten Sinne klärt,
Wo Reinheit, Schönheit unser Sein verhöhnt,
Wo Wahrheit wohnt. – – –
Ich lernte beten. Du hasts nie gelernt.
Ich kann Dein Kinderherz nicht täuschen, Junge!
Du sollst nach jenem Gott nicht jammernd beten,
Den ich dereinst so kinderheiß geliebt –
Er hilft ja nicht! er kann Dir ja nicht helfen!
Er ist ja nicht!!
Doch tief in Deinem Innern lebta der Gott,
der vorwärts hilftb, der Dich durchs Leben führt!
Halt Du nur fest am Guten, Wahren, Schönen,
Halt Du nur fest an stolzer Menschengrösse
Und jag die Kleinheit kühn aus Deinenc Tagend. ||
Und hilf der Menschheit durch Dein Vorwärtswollen
Ein Schrittlein weiter. Trag den Stein herzu,
– zum Bau des Wunderbaren –
Der Dir Pflicht ist.
Dann wird der Staub von Deinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn.
– –––
Gebet und Mär giebt unsre Zeit Dir nicht,
doch sie giebt Wahrheit. Ich auch geb Dir Wahrheit.
– Und das ist auch etwas.
Nun hilf Dir selbst!
Clara Schelper
a gestr.: wohnt, eingef.: lebt; b eingef.: hilft; c korr. aus: Deinem; d gestr.: Leben, eingef.: Tagen