Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Bölsche, Jena, 6. Januar 1915

Jena 6. Januar 1915

Lieber Freund!

Die freundlichen Glückwünsche, welche Du uns zum Beginn dieses folgenschweren Neuen Jahres gesendet hast, erwidern wir von Herzen. Ich freue mich, aus Deinem lieben Briefe zu ersehen, daß auch in der jetzigen „Götterdämmerung“, wo der entsetzliche Weltkrieg alle Verhältnisse auf den Kopf stellt, unsere Anschauungen und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft der Kultur ganz übereinstimmen. Trotz der ungeheuren Hindernisse, welche unser Deutsches Volk in dem beispiellosen Kampfe mit einer „Welt voll Feinden“ zu überwinden hat, werden und müssen wir zuletzt siegen; hoffentlich verdirbt unsere schwache Diplomatie (– „Mit Gottes Hilfe“!! –) nicht, was unsere Helden zu Wasser und zu Land mit erstaunlicher Kraft erzwungen haben! ||

Sehr erfreut und überrascht hat mich Deine Mitteilung, daß es in dieser schweren Zeit gelungen ist, das schöne Projekt einer freien „Volksbühne“ zu verwirklichen, daß Du mit Freund Wille und anderen ideal gesinnten Freunden schon vor 25 Jahren entworfen hattest. Es gereicht der Stadt Berlin wirklich zur besonderen Ehre, daß sie dazu Millionen gestiftet hat, und daß dieser neue Musen Tempel sogar zum größten und schönsten Theater der Reichshauptstadt sich entwickelt hat. Wenn nun sogar die geheiligten „Obersten Behörden“ sich entschlossen haben, der feierlichen, vor 8 Tagen erfolgten Eröffnung der „Volksbühne“ beizuwohnen, so ist das gewiß ein sehr erfreuliches „Zeichen der Zeit“! ||

Meine Frau (nun auch schon 72 J.) und ich (mit der wachsenden Last der 80) haben diesen ruhelosen Winter, mit seinen täglich wechselnden Aufregungen, bis jetzt leidlich überstanden. Auch unseren Kindern und Enkeln geht es gut. Von Neffen und Großneffen stehen 12 im Felde; davon sind 2 bereits gefallen, 2 schwer verwundet. Prof. Heinrich H. (der Stettiner Chirurg) steht seit 2 Monaten als „General-Arzt“ beim Oberkommando in Ypern und hat täglich 4 große Lazarette als „Consultierender“ zu inspiziren. Sein Bruder Georg H. (Geh. Kriegsrat in Saarbrücken) ist daselbst als General Intendant eines Armeecorps sehr tätig. Viele alte Bekannte, Kollegen und Schüler, besonders Lehrer und Ärzte, sind bereits Opfer des Krieges geworden. ||

Hoffentlich wirst Du mich im kommendena diesen Sommer (– vielleicht meinem letzten! –) noch einmal durch Deinen lieben Besuch hier erfreuen!

Mit freundlichen Grüssen von Haus zu Haus, und mit besten Wünschen für Dich und Deine liebe Familie,

treulichst Dein alter

Ernst Haeckel.

a gestr.: diesen; eigef. mit Einfügungszeichen: kommenden

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.01.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Friedrichshagen bei Berlin
Besitzende Institution
Biblioteka Uniwersytecka we Wroclawiu
Signatur
Handschriftenabteilung, Böl.Hae.169
ID
42302