Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Bölsche, Jena, 3. August 1911

Jena 3.VIII.1911.

Lieber Freund!

Deiner liebenswürdigen Einladung nach Schreiberhau würde ich sehr gern folgen, wenn es möglich wäre. Aber leider schreitet meine Genesung so langsam vorwärts, daß ich nicht daran denken darf. Noch jetzt, 15 Wochen nach dem verhängnisvollen Unfall, kann ich nur wenige Schritte auf Krücken (mit vielen Schmerzen) gehen. Auch das Allgemeinbefinden ist noch sehr unbefriedigend. Nach dem Rat der Ärzte soll ich August noch hier bleiben, und im September versuchen, eine Badekur mit schwedischer Gymnastik (in Baden-B. oder Wiesbaden) zu unternehmen. Ich bin sehr deprimiert und zum Arbeiten ganz unfähig. ||

Deinen Brief habe ich, Deinem Wunsche entsprechend, meinem Freunde Stahl mitgeteilt und ihn um seinen Rat gebeten. Nach reiflicher Überlegung kann er Dir für die neue und zeitgemäße Umarbeitung der botanischen Kapitel in Carus Sternes’ trefflichem Buche: „Werden und Vergehen“ keine bessere Kraft empfehlen, als seinen jetzigen ersten Assistenten: Cand. phil. Günther Schmidt (im Botanischen Institut, Jena). Er ist nicht allein gründlich botanisch vorgebildet, sondern hat auch spezielles Interesse für Phylogenie der Pflanzen, und versteht in angenehmer Form populaer zu schreiben. (Er hat auch gedichtet!) || Stahl hat Schmidt Deinen Wunsch in diskreter Weise mitgeteilt und er hat sich mit Freude bereit erklärt, die sehr verlockende Arbeit zu übernehmen. Da ich auf das Urteil von Stahl sowohl in sachlicher als persönlicher Beziehung volles Vertrauen lege, kann ich mich seiner Empfehlung von Schmidt nur anschliessen. Ich glaube, daß gerade für diese Aufgabe eine talentvolle und phantasiebegabte junge Kraft besser sich eignet, als ein älterer Botaniker, der bereits einen „Namen“ hat und in bestimmter Richtung festgefahren ist. Stahl (der nächste Woche in die Schweiz reist) rät Dir, direct an Günther Schmidt zu schreiben, ist auch bereit, ihn mit seinem Rate zu unterstützen. ||

Den beabsichtigten Besuch des „Ersten Monisten-Kongresses“ in Hamburg (8. – 11. Septb.) muß ich leider aufgeben. Ich bedaure dies sehr, da die Teilnahme (besonders vom Auslande) großartig ist, und der Kongress eine starke Union aller Freidenker-Richtungen auf naturwissenschaftl. Basis zu werden verspricht. Ich würde es für unsere gute Sache sehr nützlich halten, wenn auch Du (– mit Tschirn und Bruno Wille –) Dich beteiligen wolltest. – Wilhelm Ostwald (als Praesidenten) lerne ich je länger je mehr schätzen; letzten Samstag (29.7.) war er mehrere Stunden bei mir, ehe er Abends eine ausgezeichnete Rede bei der Denkmals-Feier für Ernst Abbe hielt.

Mit herzlichsten Grüßen von Haus zu Haus

treulichst Dein alter

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.08.1911
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Mittel-Schreiberhau
Besitzende Institution
Biblioteka Uniwersytecka we Wroclawiu
Signatur
Handschriftenabteilung, Böl.Hae.153
ID
42286