Engelmann, Theodor Wilhelm

Theodor Wilhelm Engelmann an Ernst Haeckel, Barmsee, 22. Juli 1895

Barmsee bei Partenkirchen 22.7.95

Lieber Freund!

Deine so herzlichen Zeilen zur Verlobung unserer Elisabeth (genannt Lissi) konnte ich von Utrecht aus nicht mehr beantworten. Zudem raubte mir der plötzliche Tod meines besten Utrechter Freundes für längere Zeit die Stimmung, aus der heraus man in solchen Fällen schreiben soll. Dazu kam noch, daß unsere Sommerpläne sich noch nicht fixirt hatten und ich immer die Hoffnung festhielt, daß Jena darin als Uebergangsstation nach dem Süden einen so ersehnten wie verdienten Ehrenplatz erhalten könnte. Das war nun leider || nicht zu verwirklichen und so kann ich wiederum nur Dir herzlichst für Deine freundliche Einladung danken u. auf bessere Gelegenheit hoffen. Zunächst vielleicht in den Weihnachtsferien, die meine Frau u. mich wohl sicher wieder nach Leipzig führen werden. Da sind wir bei meiner Mutter jetzt fast unmittelbare Nachbarn Deiner Tochter, deren u. derena Gatten persönliche Bekanntschaft wir b dann endlich zu machen hoffen. Vielleicht führt Dich dann ein guter Stern auch in die Karl Tauchnitzstraße! Auch meine Mutter u. Schwester würden sich herzlich freuen, Dich einmal wiedersehen zu dürfen, nachdem sie ja leider Deine wiederholten Besuche verfehlten!

Daß man in Leipzig an mich || als Ludwigs Nachfolger hätte denken sollen, wie gute Freunde meinten, ist mir nie beigekommen. Einmal hatten andere darauf bessere u. ältere Ansprüche, Hering obenan. Dann weiß der Hauptwacher der medizinischen Facultät, Dein Freund Wilhelm His, sehr wohl wie ich als Schüler von Gegenbaur u. Dir über ihn denke. Endlich lockte mich die Leipziger Atmosphäre überhaupt nicht. Meine Stellung in Utrecht ist viel angenehmer. Ich kann dort glaube ich ungestörter der Wissenschaft leben; was ich an äußeren Hilfsmitteln brauche wird mir reichlich gewährt u. es wäre nur der Gedanke, meiner Mutter, die nun schon 76 Jahre alt, in ihren letzten Lebensjahren zur Seite c sein zu können, der bei einer etwaigen Berufung mir ernstliche Erwägung gekostet haben würde. Doch würde || er kaum entscheidend gewirkt haben. Es wäre mir viel leichter geworden Leipzig abzulehnen als seinerzeit Jena, das mir in der That viele schwere Kämpfe gekostet hat. Es ist mehr – das Ausland kann einen das Vaterland nie ersetzen und in dieser Beziehung werde ich somit mein Leben voraussichtlich immer als ein verfehltes zu betrachten haben. Aber andererseits kann man d im Ausland seinem Vaterlande unter Umständen mehr Dienste erweisen als wenn man in der Heimat bleibt. Und dann finde ich nicht daß unter der neuen Aera mit ihrem Byzantinismus, ihrem Gottesgnadenthum u. Pfaffenwirthschaft das liebe Vaterland gerade so sehr viel Anziehendes bekommen hat. Holland ist in politischer u. socialer Beziehung doch unverkennbar viel weiter entwickelt, als Deutschland e voraussichtlich noch 100 Jahre lang sein wird. || Es ist ehrlich und nicht bloß dem Papier freisinnig. Weder Ultramontanismus noch Sozialdemokratie sind eine Macht, welche irgendwelchen entscheidenden Einfluß üben könnten; auch fehlt uns die liebliche Blüthe des Antisemitismus, Jude, Christ oder Heide können Minister, Professor, Schullehrer werden; kein Beamter oder Officier würde Schaden leiden in seiner Laufbahn, wenn er sich nur civiliter trauen lassen würde; kein Theologieprofessor abgesetzt, wenn er die Göttlichkeit Christi leugnete (dief hier nur wenige noch zu behaupten wagen); kein Geistlicher hat bei den Staatsschulen auch nur ein Wort hereinzureden oder auch nur Sitz im Collegium; kein müder Leib wird der Mutter zurück gegeben mit priesterlicher Salbaderei, es sei denn daß die Angehörigen oder der Verstorbene es ausdrücklich verlangtg hätten. || Wem sollte es in solcher Atmosphäre nicht menschlich wohl sein? Ich bedauere aus diesem Grund auch nicht, daß ich einen Holländer zum Schwiegersohn bekomme, um so weniger als er übrigens ein vortrefflicher, meiner Frau wie mir höchst sympathischer Mann ist. Er ist Advokat und stellvertrentender Amtsrichter in Utrecht, hat eine schöne, sich stetig ausbreitende juristische Praxis – für einen 29jährigen Alles was man verlangen kann. Er wird uns in 14 Tagen hier besuchen um auch meine Leipziger Angehörigen kennen zu lernen. Der Aufenthalt hier ist sehr erquicklich, namentlich durch die ganz einzige Badegelegenheit. Ich benutze sie um meinem Jüngsten das Schwimmen beizubringen. Für Maler wäre hier auch viel zu holen. Kämst Du im Sommer in die Nähe, dann möchte ich Dir – auch ohne irgendwelche egoistische Nebenabsichten – einen Besuch dieses schönen Flecks dringend anrathen. Von Partenkirchen – das ich beiläufig als Sommeraufenthalt || mir wählen würde – kommt man in 2 Stunden auf schöner neuer Straße hierher. In 5–6 Stunden ist man über Mittenwald, Scharnitz, Zirl in Innsbruck. Der ganze Ort besteht hier besteht nur aus einem, etwa für 40 Gäste Raum bietenden, pensionsartigen Gasthof, auf niedriger Anhöhe über dem See, u. aus 2 Bauernhäusern 100 Schritt davon. Keine Spur von Badegetriebe, auch nur wenig Passanten. Gute Bedienung, Verpflegung u. Wohnung. Herrlicher weiter Rundblick auf die Gebirge (Karwendelgebirge u. Wetterstein, im Hintergrund die Berge des Innthals westlich von Innsbruck). Keine Berliner, keine Engländer. Was will man mehr! Bis gegen den 20 August denken wir zu bleiben.

Nun sollte ich Dir noch danken u. ausführlicher schreiben über Deine systematische Phylogenie, deren ersten Theil Du mir zu schicken die Freundlichkeit hattest. Ich habe aber das || Buch nicht bei mir, um gehörig darauf einzugehen u. kann so nur sagen, daß ich bereits eine Fülle von Anregung u. Belehrung daraus geschöpft habe und darum aufs Neue die alten großen Eigenschaften bewunderte, die schon die generelle Morphologie zierten. Das ungeheure Material in dieser Weise zu bewältigen bleibt eine Riesenleistung. Auf dem engeren morphologischen Gebiet der Protisten, wo ich mich auch einigermaßen zu Hause fühle, bin ich Deinen Ausführungen durchaus mit Genuß und Beistimmung gefolgt. Man muß aber auch dies Buch im Ganzen nehmen, um das Einzelne richtig u. voll zu würdigen. Der Philister, der am einzelnen Satze klebt, wird gewiß manches finden, wobei er den Kopf schüttelt. Ich bin auf die Fortsetzung äußerst gespannt, wenn ich auch Mühe haben werde sie durchzuarbeiten!

Mit herzlichstem Gruße u. den besten Wünschen für Dein u. besonders auch Deiner verehrten Frau Gemahlin Wohlergehen in alter Treue

Dein

Th. W. Engelmann.

a korr. aus: des; b gestr.: uns; c gestr.: zu; d gestr.: auch; e gestr.: u. die; f gestr.: was, eingef.: die; g korr. aus: verlangten

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.07.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4202
ID
4202