Berlin 24/12 64.
Mein liebster Freund!
Heute am Heiligen Abend, wo in allen Familien Jubel und Freude herrscht, und wo wir Beide den Druck des bittersten Schmerzes auf das Tiefste empfinden, ist es mir ein besonderes Bedürfniß, Dir ein Wort des Mitgefühls in unser verödetes, sonst so liebliches gemeinsames Heimath-Nest zu senden. Weiß ich doch, daß Du besser, als jeder Andere, meinen eigenen Schmerz kennst und mitträgst, und daß auch Du durch dieselben Vorstellungen und Bestrebungen bewegt wirst, wie ich selbst. So weiß ich denn auch, daß gerade diese Weihnachtstage Dich besonders mit dem tiefsten Schmerze durchdringen, wie es auch bei mir der Fall ist. Unnennbares Weh, unaussprechlicher Schmerz hat heute Abend uns Beide erfüllt als die Lichter an den Tannen angezündet wurden und in allen Familien sich Alt und Jung zum Festes-Jubel und Weihnachts-Freude rüstete. || Und doch eigentlich, in wie Wenigen herrscht reine Freude und ungetrübtes Glück? Wie Wenige kennen so hohes, unvergleichlich schönes Glück, wie wir Beide es erlebt haben! Sieh umher, wie Vieles nur äußerer Schein ist; wie viel Kummer und Noth, wie viel Elend und Sorge hinter der glänzenden Hülle meist versteckt ist. Wie klein ist die Anzahl der Menschen, die gleich uns des Daseins höchste Höhen erklommen und in der reinen Liebe eines edlen begabten seelenvollen Weibes das höchste Glück kennengelernt haben, das diese Ephemera-Existenz uns überhaupt gewähren kann. So kann ich denn mitten in der tiefsten Bekümmerniß, die mich heut Abend ganz erfüllt, nicht ohne einen gewissen freudigen Stolz auf die erhabene glückselige Existenz zurückblicken, die jetzt abgeschlossen hinter uns liegt, nicht ohne das hoch beglückende Bewußtsein, „es doch gehabt zu haben!“ ||
Wie sehr habe ich Dich heute Abend zu mir herbei gesehnt, liebster Carl, um an Deiner mitempfindenden Brust den tiefen Schmerz meiner eigenen auszuschütten. Ich konnte hier Niemandem so mich hingeben, wie ich es Dir, dem ganz Gleichgesinnten gegenüber vermag. Mein Bruder hatte, um mir eine Freude zu machen, das niedlichste und lieblichste seiner 7 Kinder hergeschickt, das rotbackige „Goldmietzchen“ mit langen blonden Zöpfchen und großen blauen Augen. Meine guten Eltern hatten ihm ein kleines Tannenbäumchen zugeputzt, unter dessen Lichtern es seine Bescherung empfing. Die naive Freude des reizenden kleinen Mädchens war rührend; ich aber konnte es nicht ertragen und bin ein paar Stunden allein im Thiergarten umhergelaufen, in den dicht verwachsenen dunkeln Partien desselben, die meine Braut so sehr liebte. Das einsame Rauschen der vom Nordwind bewegten Bäume mit ihren nackten frierenden Zweigen, und das Ächzen und Stöhnen der gebeugten Stämme || haben das wild erregte Gemüth wieder etwas beruhigt. Dann bin ich lange auf dem einsamen Hafenplatz umhergewandert, und habe vergeblich auf dem hohen Balkon der Alhambra, des im maurischen Stil gebauten Hauses, das meine Anna während der 4½ Jahre unserer Brautzeit bewohnte, die feine weiße Gestalt gesucht, die mir so oft Abends die Schlüssel herunter warf, und wenn ich nach glückselig verplaudertem und verscherztem Abende heimkehrte, von oben eine „felicissima notte“ nach rief. Ein schönes Mährchen nach dem anderen zog da vor meiner Phantasie wieder herauf, Alles selbst erlebte wirkliche lebendige Mährchen und doch so schön, so poetisch, wie sie nur in einem Mährchenbuche gedacht werden können. Wie gern hätte ich Dir da eines oder das andere von diesen lieblichen Traumbildern, die einst greifbare Wahrheit für mich waren, vorgeführt, und Dich tiefer in unser heimliches Glück blicken lassen, als Du es bisher gekannt hast. So aber habe ich die süßen Schmerzen allein mit mir tragen und durchleben müssen. [Briefschluss fehlt]