Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 10. Dezember 1895

Jena 10.12.1895.

Lieber u. hochverehrter Freund!

In den letzten Wochen war ich so mit dringlicher Arbeit überladen, daß ich erst heute dazu komme, Ihren lieben Brief zu erwidern. Mit Freuden ersehe ich daraus, daß Sie Ihre optimistische u. liebenswürdige Weltanschauung – trotz Ihrem schmerzhaften Leiden – frisch erhalten, u. daß Ihre unermüdliche Schaffenslust unvermindert fortwirkt. Von mir kann ich leider nicht dasselbe sagen. Ich bin im letzten halben Jahre zu einer recht resignirten u. wenig erfreulichen, trüben Stimmung herabgesunken. ||

Dazu ist nicht sowohl mein schwerer Unfall mit seinen langwierigen u. schmerzhaften Folgen die Veranlassung, als vielmehr der unbefriedigende Rückblick auf meine mangelhafte Lebens-Arbeit, zu welchem mir die Selbstbetrachtungen auf meinem langen Krankenlager Muße gaben. Wie wenig habe ich doch mit allem meinem ehrlichen Streben nach Naturerkenntniß u. Ausbreitung der Wahrheit erreicht; wie wenig habe ich im Kampfe gegen die drei großen Feinde der Menschheit: Dummheit, Aberglauben u. Trägheit – dauerhafte Erfolge erreichen können. ||

An mehreren meiner nächsten Schüler habe ich in diesem Unglücks-Jahre die traurigsten Früchte erlebt. Dazu kam noch mancherlei Ungemach in der Familie, längere Krankheit meiner Frau, tiefe Verstimmung über die klägliche Reaction in dem kaum gegründeten deutschen Reiche, etc. etc. etc.

Daß ich unter diesen Umständen keine Stimmung fand, das bewunderungswürdige Epos von Marie Eugenie delle Grazie zu besprechen, werden Sie begreifen. Der großartige „Robespierre“ hatte mich im Beginne des Jahres auf das Lebhafteste beschäftigt u. ich hatte bereits begonnen, meine Gedanken darüber nieder zu schreiben. Als ich sie aber nach Wochen wieder durchlas, || erschien mir mein Geschreibsel so kläglich und des großen Gegenstandes so unwürdig, daß ich es dem Feuer übergab. So ist es mir bisher mit jedem Versuche ergangen, über große Objecte der Kunst mein Urtheil abzugeben. Vor Jahren hatte ich (auf Bitte von Lützow in Wien) einen Aufsatz über „Malerei u. Naturwissenschaft“ geschrieben; er war vielleicht nicht schlecht, aber doch erschien er mir so mangelhaft, daß ich ihn vernichtete. So ergeht es mir immer, wenn ich mich über große Aufgaben aussprechen soll, die außerhalb meines eigensten Gebietes liegen!!

Vielleicht theilen Sie Fräulein M. E. delle Grazie, deren Wunsch ich so sehr gern erfüllt hätte, dieses Bekenntniß mit; Sie selbst haben ihr herrliches Werk ja viel besser gewürdigt, als ich es vermocht hätte! ||

Mit herzlichsten Grüßen an Sie u. Ihre lieben Kinder

Ihr treuer alter

Ernst Haeckela ||

Mit der Besserung des steifen Fußgelenks geht es langsam vorwärts.b

a weiter am Rand v. S. 4: Mit herzlichsten … Ernst Haeckel; b weiter am Rand v. S. 3: Mit der … langsam vorwärts.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
10.12.1895
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Wienbibliothek im Rathaus Wien, Slg. Wilhelm Börner
Signatur
H.I.N. 90670
ID
41758