Engelmann, Theodor Wilhelm

Theodor Wilhelm Engelmann an Ernst Haeckel, Leipzig, 28. Dezember 1875

Leipzig 28 December 75.

Hochverehrter Freund!

Besten Dank für Zusendung Ihrer „Ziele und Wege“, wie überhaupt für Ihre letzten Arbeiten! Sie kennen mich, denke ich genug, um zu wissen, daß ich der Sache die Sie vertheidigen aus voller Ueberzeugung zugethan bin. Nura glauben Sie nicht, daß ich der einzige Physiolog bin der so denkt! Gott sei Dank sind die Einseitigkeiten der Leipziger Schule nicht Fehler der modernen Physiologie überhaupt, wie man wohl aus manchen Ihrer Äußerungen ableiten könnte! Sie wissen so gut wie wir alle, daß die Descendenztheorien, als sie Darwin zuerst wieder erweckte, von den Physiologen sofort – als etwas beinahe Selbstverständliches, ähnlich wie früher das Princip der Erhaltung der || Kraft, begrüßt u. angenommen wurde und daß es gerade die Morphologen waren, die ihr den hartnäckigsten Widerstand boten. Ich bezweifle ob das so gekommen wäre b wennc nicht eine Zeit lang gerade die der Morphologie praktisch abgeneigte „physikalische“ d Richtung in der Physiologie zur Entwickelung gekommen wäre und geherrscht hätte. Ohne Zweifel ist es ein wesentliches Verdienst dieser Richtung – als deren Hauptmotor die Geschichte einst du Bois-Reymond nennen wird – das Herrschen blinder Gesetzmäßigkeit in der organischen, die Einheit der Gesetze in organischer u. unorganischer Natur allein demonstrirt, bis ins Mark eingeprägt e und so einen Boden geschaffen zu haben, auf dem Darwins neue Lehre sofort feste Wurzeln schlagen konnte. Seit 25 Jahren, durch den Einfluß der „physikalischen“ Physiologie, ist die Physiologie im Großen u. Ganzen die Pflegstätte monistischer Philosophie gewesen. Wäre sie mit Johannes Müller die morphologischen || Wege weitergewandelt, würden wir vermuthlich noch dualistische Anschauungen vorherrschen, die Lebenskraft noch immer ihren Unfug treiben sehen. Die Physik, die Chemie, die Astronomie, die Morphologie vor Darwin haben sich dem Monismus gegenüber geradezu feindlich verhalten. Findet man doch noch jetztf gerade unterg den Vertretern der „exakten“ Naturwissenschaften, wie andererseits unter den Morphologen die zahlreichsten und eifrigsten Dualisten. Sie können u. dürfen der modernen Physiologie das große, außerordentliche Verdienst nicht absprechen, diese Richtung consequenth bekämpft und im Wesentlichen besiegt zu haben. Daß sie sich im Großen u. Ganzen der Morphologie gegenüberi theilnahmslos verhält – insofern sie wenigstens nicht aktiv eingreift – ist bei dem Entwickelungsgang den die meisten Physiologen jetzt genommen haben u. zu nehmen gezwungen waren, nur selbstverständlich. Es ist eine große Zumuthung, tüchtiger Physiker, j Chemiker, k mikroskopischer u. „grober“ Anatomen l dabei auch gründlich in Zoologie u. Botanik zu Hause zu sein. Jedenfalls || wird in diesem Punkte eine Aenderung eintreten zu Gunsten der Morphologie, und wenn mich nicht alles täuscht, werden Sie der sein, der den Umschwung bewirkt. Im Hinblick hierauf kann man nur froh sein, daß Sie die Verirrungen zum welchen die Vernachlässigung morphologischer Studien führt, so scharf geißeln. Und es war wohl an der Zeit daß dieß geschah. Noch fünf oder zehn Jahr später und Sie hätten vielleicht einen großen Augiasstall gefunden! Man sollte meinen, nach Ihren klaren, den Nagel auf den Kopf treffenden Auseinandersetzungen müßten die His’schen Verkehrtheiten und Göttes Blödsinn auch dem Dümmsten als Dummheit einleuchten! Ueber Götte bin ich geradezu erschrocken! Das geht ja geradezu in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche! Solche Leute sind entschieden gefährlich u. müssen, wenn sie nicht zu bessern sind, mit allen Mitteln unschädlich gemacht werden!

Doch zu etwas Erfreulicherem! Ihre vergleichende Darstellung der Eifurchungs- u. Gastrulationsvorgänge hat mir persönlich ein längst gefühltes Bedürfniß erfüllt, wie wohl vielen andern auch. Endlich kommt einmal Ordnung || in den Wust der Thatsachen! Die 4 Kategorien die Sie aufstellen – Archi-, Amphi-, Disco-n u. Perigastrula mit ihren Vorstufen – sind offenbar höchst glücklich u. naturgemäß abgeleitet u. leicht werden sich alle wirklich vorkommenden Fälle darino einordnen lassen. Jetzt bleibt nur wünschenswerth, daß über die Gastrulation der Säugethiere bald neue Thatsachen Licht bringen mögen! Vorläufig kann man ja nichts Anderes thun, als sich Ihrer Hypothese, daß man es hier mit einer tertiären Form u. nicht mit Archigastrulabildung zu thun habe, nur anschließen.

Im Sommer u. Herbst 1874 u. neuerdings wieder habe ich mich einmal physiologisch mit Ekto- u. Entoderm beschäftigt. Die alten Umstülpungsversuche von Trembley, an Hydra, waren ja ganz in Streit mit der Vorstellung daß jedes derp beiden Blätter bestimmte constante Functionen besorge, das eine animaleq, das andere vegetativer. Ich habe also viele Hydren umgestülpt u. beobachtet. Aber das Resultat war immer dasselbe! Die Entodermzellen || quollen, lösten sich ab, ebenso starben u. zerfielen die Ektodermzellen. War das umgestülpte Stück abgefallen, dann konnte wohl vom nicht umgestülpten Rest – sei es vom s Peristom sei es von den Tentakelwurzeln her – ein neuer Leib sich bilden, der oft ganz schief zur ursprünglichen saß u. den normalen Bau besaß. Mitunter gingen die Thiere aber auch ganz zu Grunde. Ich habe die Versuche nicht publizirt, da meine Thiere alle aus fließemden Wasser stammten, also in der Stube unter sehr abweichenden Bedingungen sich befanden, während Trembley seine Thiere aus stehenden Wasser geholt hatte, was vielleicht – obschon ich’s nicht glaube – einen Unterschied für die vorliegende Frage machen könnte. Bei einem so sorgfältigen u. in den meisten Sachen so unbefangenen Beobachter wie Er war, ist es Pflicht alle andern Möglichkeiten auszuschließen ehe man ihn leichtfertiger Täuschung beschuldigt.

Das Auswachsen kleiner, oft nicht mehr wie ¼ cub. mm t großer abgeschnitteneru Tentakelsitzchen, zu 5-armigen completen Hydren || habe ich oft gesehen! Da soll Einer mit Briefcouverts, Höllenlappen u. Knallbonbons einmal anfangen!

Ich muß schließen, da ich zur Bahn muß, Jemand abzuholen! Mein Vater in dessen Bureauv ich schreibe, grüßt Sie vielmals. Er wird nächstens nach Jena hinüber gehenw. Ich bedaure daß mir dießmal die Zeit so kurz gemessen ist, daß ich nicht auch Sie besuchen kann! Die mit Ihnen verlebten Stunden sind mir immer eine wahre Wohlthat gewesen! Führt Sie der Weg nicht einmal hierher? Bis zum 6ten Januar bin ich hier!

Herzlichen Gruß! Im alten wie imx neuen Jahr

Stets Ihr treu ergebener

Th. W. Engelmann.

a korr. aus: Und; b gestr.: ohne; c korr. aus: den; d gestr.: Physio; e gestr.: zu haben; f eingef.: jetzt; g korr. aus: je; h korr. aus: be; i eingef.: gegenüber; j gestr.: u.; k gestr.: u.; l gestr.: zu sein u.; m eingef.: zu; n korr. aus: P; o korr. aus: darunter; p gestr.: die; eingef.: jedes der; q korr. aus: animales; r korr. aus: vegetatives; s gestr.: Schlund; t gestr.: T; u eingef.: abgeschnittener; v korr. aus: Büreau; w korr. aus: kommen; x korr. aus: imn

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.12.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4169
ID
4169