Ernst Haeckel an Eduard Strasburger, Jena, 18. Oktober 1876

Jena 18 Oct 76

Liebster Freund!

Für Deinen lieben Brief aus Genua danke ich Dir herzlich! Ich war sehr begierig auf Nachricht von Dir und freue mich, daß sie so gut lautet.

Hoffentlich höre ich immer nur Gutes! Wie viel lieber ich bei Dir an meinem theuren Mittelmeer und in meiner schöneren Heimath, Italien, wäre, als hier unter dem grauen Himmel Norddeutschlands, brauche ich Dir nicht zu sagen! Ich denke mit tiefem Grauen an den bevorstehenden Winter, den einsamsten, den ich je verlebt habe. ||

Mit Dir fehlt mir hier jeder intimere wissenschaftliche und freundschaftliche Verkehr, und so bleibt mir nichts übrig, als mich tief in die Arbeit zu stürzen, was auch demnächst geschehen wird.

Meine Reise nach Groß-Britannien war sehr interessant und lehrreich. Ich ging am 1. September direct über London nach Glasgow und blieb 14 Tage in Schottland. Das September Wetter war dort ganz ausnahmsweise sehr schön, während es hier in Deutschland u. der Schweiz scheußlich war! 8 Tage im Hochland waren reizend. Ich fand in meinem Glasgower Gastfreund, der || mich eingeladen hatte (Herr Paul Rottenburg) einen höchst feinen liebenswürdig und gebildeten Mann, der mich 8 Tage fürstlich (à la Khedive!) verpflegte und danach 8 Tage mit mir reiste. a 2 sehr schöne Tage war ich auf der Insel Arran, dann nach Oban; von dort an einem wolkenlosen Prachttage die Rundfahrt um Insel Mull (mit dem wunderbaren Staffa u. Iona); dann per Coach von Oban längs Loch Etive u. Loch Awe nach Dalmally u. Tynedrum, über Stirling nach Edinburgh, über Trossachs, Loch Katrine, Loch Lomond nach Glasgow. Das Wetter konnte ich nicht schöner treffen, dort eine große Seltenheit! ||

Höchst interessant waren 2 Tage in Edinburgh, wo ich die fabelhaften Challenger-Sammlungen bewunderte: eine neue Welt von niederen Seethieren! Ganze Serien ausgestorbene Kreide- u Jura Thiere lebend, aus 10–26,000 Fuß Tiefe! Echinodermen u. Spongien ganz wundervoll! An gewissen Stellen besteht der Meeresschlamm bloß aus Radiolarien-Panzern, hunderte neue Formen, ganz reizend! Eine ganze Büchse voll habe ich mitgebracht und werde sie bearbeiten. Der Director der Sammlung, Wyville Thomson ist ein sehr liebenswürdiger Schotte, mit weitem Blick und gut gebildet. ||

Darwin fand ich nach 10 Jahren noch ziemlich frisch, obgleich schwach und durch Familien-Unglück sehr gebeugt; liebenswürdig und harmlos, wie immer!

– In London war ich 8 Tage, mit Abbe u Sievers in einem Hause, sehr gemüthlich. –

– Von Glasgow ging ich direct per Schiff nach Belfast, per Bahn von dort nach Dublin und genoß 3 Tage Irland! Ein grünes, warmes, katholisches, schmutziges, liederliches Land. Nirgends habe ich noch so viel liederliche Frauenzimmer getroffen; in Dublin wurde ich 15mal direct attaquirt! Von Dublin per flying „Irishman“ Mail in 15 Stunden nach London! ||

An der British Association hatte ich nach 3 Tagen genug und schenkte mir die übrigen 5 Tage. Es ist derselbe Schwindel wie unsere Deutschen Naturforscher-Versammlungen, nur harmloser! Mehr Dilettantismus, riesige gegenseitige Complimente, gar keine Kritik! Ich wurde gezwungen einen Vortrag in englischer Sprache zu halten (!), „aber frag’ mich nur nicht, Wie“! Trotz eines grauenhaften Idioms erhielt ich lebhaftesten Beifall und mußte mich in das Album verschiedener Lady’s eintragen. Die letzten 3 Tage (wo ich glücklicherweise fort war!) wurde lebhaft über Spiritismus (!!) unter Wallace’s Vorsitz discutirt; auch Geister beschworen! ||

Hier in Jena ist noch tiefste Ferienruhe. Nur Kuno Fischer setzte durch einen Besuch vor 8 Tagen das stille Universitäts-Dorf in große Aufregung. Er wohnte bei Seebeck. Letzterer ist sehr müde.

– Bei mir zu Hause geht’s leidlich. Meine arme Frau hat wieder einen Monat gelegen, geht aber seit 8 Tagen wieder aus. Die Kinder haben den üblichen Herbst-Catarrh. Im Institut ist Alles in Ordnung.

– Deiner lieben Frau und Dir von uns Beiden freundlichste Grüße.

Mit besten Wünschen

Dein treuer

E. Haeckel.

a gestr.: II

Brief Metadaten

ID
41647
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
18.10.1876
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Besitzende Institution
Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abt. Hss. u. Rara
Signatur
NL Strasburger, Eduard
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Strasburger, Eduard; Jena; 18.10.1876; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_41647