Jena 10 Sept 73
Liebster Freund!
Gestern bin ich von einer 20tägigen Excursion in die Schweiz zurückgekehrt und fand Deinen lieben Brief vor, dessen gute Nachrichten mich erfreut haben. Wie ich Dir schon voraussagte, ist Kopenhagen mit Umgebung wirklich recht lohnend. Hast Du noch Zeit, so besuche doch den nächsten Freund, den ich dort habe, Dr. Harald Krabbe Professor der Anatomie an der „Landbohoe og Veterinar-Skole“ in Kopenhagen. ||
Er ist ein liebenswürdiger guter Mensch, mit dem ich in Würzburg, Berlin und Wien studirt u. botanisirt habe. Auch Steenstrup kannst Du von mir grüßen.
Die Ablieferung Deines Manuscriptes hat Zeit bis zu Deiner Rückkehr. Es vergehen noch 4–6 Wochen, bis das vorliegende gedruckt sein wird.
Ich habe eine recht nette kleine Schweizer Reise gemacht, auf den Quellen des Rheins und der Rhone, habe auch bei schönstem Wetter 3 Hörner von cc. 9000 Fuß bestiegen: Eggischhorn (prachtvoll!), Furca-Horn und Piz Murdaun. ||
Hier ist tiefste Ferien-Stille. Gegenbaur packt bereits. Schwalbe, sein Nachfolger, war kurz nach Deiner Abreise hier. Er befindet sich, um Gegenbaur’s Ausdruck zu adoptiren, „vollständig im Stande der Unschuld“!! Er erzählte uns mit großem Interesse von der höchst wichtigen Aufgabe, die er jetzt vorhabe, nämlich „die Stäbchen der Retica zu zählen“!!!!
Wir wollen sehen, ob der wunderthätige Genius loci von Jena auch hier ein Wunder zu thun im Stande ist! Das wäre allerdings fabelhaft!! ||
Meiner Familie geht es gut. In etwa 3–4 Wochen wird hoffentlich die bevorstehende Knospen-Auslösung glücklich überstanden sein. Meine Frau grüßt herzlich.
Ich wünsche Euch auch für den Rest Eurer Reise noch viel Vergnügen und gutes Wetter!
- Nun durch Gegenbaurs Weggang hier eine so unersetzliche Lücke entsteht, müssen wir uns in unserem wissenschaftlichen und freundschaftlichen Verkehr doppelt fest zusammen schließen. Von Herzen auf frohes Wiedersehen!
Dein treuer
Ernst Haeckel
