Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 27. August 1856

Würzburg 27/8 56.

Liebste Eltern!

Bereits vorgestern erhielt ich euren lieben, mit sehnlichster Ungeduld erwarteten Brief, worin ihr mit der liebevollsten Bereitwilligkeit auf meinen Vorschlag eingeht, Beckmanns Reise durch einen Zuschuss von 50–80 rℓ zu ermöglichen. Welche außerordentliche Freude ihr mir dadurch machtet, habt ihr wohl selbst kaum gewußt, da mir selbst meine eigne Reise durch Beckmanns Gesellschaft in jeder Beziehung nun mehr als das Doppelte werth wurde. Leider war aber diese Freude sowohl, wie alle andern Bestrebungen, die ich zu diesem Zweck aufgeboten hatte, ganz umsonst und meine Pläne sind jetzt vollständig an einer Klippe gescheitert, an die ich selbst bei der hoffnungsvollen Vorausberechnung meiner Absichten nicht gedacht hatte, obwohl sie nahe genug lag, nämlich an Beckmanns entschiedenem Entschluß, Köllikers und mein freundliches Anerbieten nicht anzunehmen! Ich hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Sogleich nachdem ich ihm nach Ankunft eures Briefes, indem ihr mir mit der liebevollsten Güte eure Unterstützung zusichert, dies freudige Resultat mittheilte, erklärte er zwar, daß er diese außerordentliche Freundlichkeit aufs höchste zu schätzen wisse, daß er aber unmöglich unter seinen jetzigen Verhältnissen davon Gebrauch machen könne. Die Entschiedenheit, mit der er mir meine Bitten abschlug, ließen mich bei seiner bekannten Charakterfestigkeit sogleich befürchten, daß er dabei bleiben würde; || und in der That sind auch alle Mittel, über die meine Überredungskunst zu gebieten hatte, vollständig erfolglos geblieben. Vergeblich habe ich heute, gestern und vorgestern alle Bemühungen: Bitten, Vorstellungen, Drohungen etc in vollster Kraft wirken lassen. Alles umsonst! Ich antworte auch erst heute Abend, weil ich bisher immer noch gehofft hatte, ihn umzustimmen. Jetzt habe ich aber die Hoffnung selbst vollständig aufgegeben und muß mich wohl fügen. Die Gründe, weshalb Beckmann die Reise nicht mitmachen zu dürfen glaubt, will er Dir, liebster Vater, selbst noch in einem Brief auseinander setzen. Von denen, die er selbst mir dagegen anführte, mußte ich allerdings selbst ein paar zuletzt gelten lassen, a nämlich einmal daß er dadurch zu Kölliker in ein sehr schiefes Abhängigkeitsverhältniß käme, und dann, daß er in der größeren Arbeit, die er jetzt (über Nieren) vor hat, ganz gestört würde. Dagegen konnte ich die andern nicht billigen und argwöhne namentlich, daß einerseits ihn seine übermäßige Bescheidenheit, die er wirklich übertreibt, andererseits ein gewisser Stolz, solche Güte anderer Leute nicht zu bedürfen und anzunehmen, von der Annahme eures gütigen Geschenks zurückhält. Sei dem nun, wie ihm sei, so thut mir die Geschichte jedenfalls außerordentlich leid, noch viel mehr für ihn, wie für euch, obwohl auch für mich dadurch die Reise um die Hälfte nicht nur von wissenschaftlichen Nutzen, sondern auch an rein menschlichem Genuß verliert. || Für ihn selbst wäre die Reise in der That äußerst wünschenswerth gewesen, sowohl für seinen an und für sich schwächlichen Körper, als auch für seinen Geist, den er durch übermäßiges Arbeiten nun zu sehr anstrengt. Ich wollte nur, daß ihr diesen herrlichen Geist näher kenntet, um ihn mit mir zu bewundern und zu verehren. Einen so herrlichen Menschen habe ich doch noch unter meinen Altersgenossen niemals gefunden.

Wenn ihr mich, wie ich wirklich hoffe, nächsten Winter um sehr Vieles menschlicher, reifer, vernünftiger, brauchbarer wiederfinden werdet, so hat Beckmann jedenfalls an der Herbeiführung dieser erheblichen Verbesserung den größten Antheil. Wie außerordentlich viel verdanke ich lediglich dem Umgange dieses liebenswürdigsten, prächtigsten Menschen. Die ganz ungemeine Achtung und Verehrung, welche ich für diesen meinen besten, liebenswerthesten Freund, hege mag es allein entschuldigen, daß ich euch, liebe Eltern denen ich so schon so viel Mühe, Sorge und Kosten verursache, nun noch mit dieser großen Bitte gequält habe, die nun leider, wie alle meine Bemühungen dabei, umsonst ist. Aus meinem letzten Brief, den ihr inzwischen wohl in Bonn bekommen haben werdet, werdet ihr gesehen haben, daß ich nachträglich auch noch die Idee hatte, mich wegen der Beisteuerung an Adolph Schubert zu wenden. So eben sind nun auch heute Abend die 40 rℓ von ihm angekommen. || Da ich, wenn ich alles, was ich hier noch zu kaufen und zu bezahlen habe, abziehe, für die reine Reise nach Nizza nur etwa noch 30–35 rℓ übrig behalte, so werde ich die 40 rℓ von Adolph Schubert mit zu meiner Hinreise nehmen und ihr könnt sie ihm dann direct zurückschicken.

Ich hatte anfangs vor, ihn darum zu bitten, ob er die 40 rℓ nicht etwa doch noch Beckmann, der bei seinem äußerst bedrängten Vermögensverhältnissen (sein Vater ist ein armer Mecklenburger Landpfarrer mit x Kindern, und nur 200 rℓ Gehalt!) eine solche Unterstützung wirklich sehr gut brauchen könnte, schenken wollte? Doch scheint mir Adolphs Brief, den ich euch deßhalb zur Einsicht beilege, in einem so sonderbaren, durchaus verfehlten und fast mißtrauisch-unfreundlichen Tone geschrieben, daß ich ihn in der That nicht darum bitten mag. Schreibt mir doch ja im nächsten Brief, was ihr dazu denkt und schreibt mir auch Adolphs Adresse da ich doch jedenfalls ihm antworten muß.

Da ich übrigens auf diese Weise über 70 rℓ, mehr als ich für die Hinreise allein brauche, beisammen habe, so braucht ihr mir natürlich kein Geld direct mehr herzuschicken. Doch möchte ich euch bitten, den Akkreditivbrief mir sicher noch vor meiner Abreise hierher zukommen zu lassen. ||

Den Tag meiner Abreise habe ich noch nicht bestimmt und werde ihn ganz danach einrichten, ob ihr noch herkommt oder nicht. Gebt ihr den Besuch Würzburgs wirklich auf, wie ihr im letzten Briefe bestimmt schriebet, so würde ich bereits am 5ten oder 6ten September von hier mit dem Dr. Kunde, der bis dahin noch auf mich warten will, abreisen. Wir würden dann über Basel, den Bieler und Neufchateller See nach Lausanne gehen und ich mich an dem herrlichen Genfer See ein paar Tage aufhalten können. Dies wäre mir namentlich deßhalb sehr lieb, weil Claparéde, der mich dringend gebeten hat, ihn doch ja auf seinem schönen Landsitz Clermont bei Genf zu besuchen, jetzt dort (zu Haus) ist. Auch würde ich mir einige schöne Orte, die ich sonst im Fluge durcheilen müßte, dann genauer ansehen können. Dieser Theil der Schweiz und namentlich der Genfer See soll allerdings so reizend sein, daß ich schon große Lust dazu hätte. Indeß bitte ich euch dringend, euch dadurch keineswegs von dem Besuch Würzburgs abhalten zu lassen, im Falle ihr mich am 6ten oder 7ten noch hier besuchen wolltet. Ich würde dann erst am 8ten von hier abreisen, da ich erst am 11. nothwendig in Vevay sein muß, wenn ich am 12ten mit Koelliker von dort abreisen will. Den Genfer See, Genf, Lausanne etc sehe ich doch vielleicht mal später wieder, und welche Freude ihr b uns allen 3 durch euren Besuch machen würdet, wißt ihr ja. || Ich bitte euch also dringend, ganz danach zu handeln, wie es euch Freude macht und lieber ist. Ich meinerseits gestehe euch ganz offen, daß ich meinerseits mir die Freude des Wiedersehens, da wir ja doch den Winter recht allerliebst zusammen verleben werden, wohl noch auf einen Monat später würde versparen können, wenn ich dadurch die Gelegenheit gewänne, ein paar Tage früher von ihr fort zu kommen und von der Schweiz etwas mehr, als im Durchflug, zu sehen. Andererseits möchte ich euch aber doch auch sehr gern mein liebes altes Würzburg zeigen, obgleich es freilich jetzt nicht sehr in seiner Glanzperiode ist. Doch habe ich euch ja neulich schon darüber geschrieben und überlasse euch ganz die Bestimmung. Nur dürft ihr es mir nicht als eine Art von Rücksichtslosigkeit oder Mangel an Liebe auslegen, wenn ich euch so offen darüber schreibe! Nicht wahr? –

Hier sieht es jetzt allerdings so schaurig und traurig aus, daß es mir ordentlich unheimlich zu Muthe wird. Die Ferien so ganz heimzubleiben, wäre doch gar zu öde! Die Professoren sind sämmtlich verreist. Von Studenten ist kaum noch etwas zu sehen. In der Anatomie sind die Maurer mit allerlei Reparaturen und Aufputzen beschäftigt, so daß ich auf c den großen Saal für die trocknen pathologischen Knochenpräparate zurückgedrängt bin und hier hinauf habe ziehen müssen! || Trotzdem ich meine beiden besten Freunde, Beckmann, und das liebe, treue Tyrolerherz, R. v. Call, noch hier habe, wird mir doch so ungemüthlich dabei, daß ich mit Sehnsucht der Abreise entgegensehe. –

Nun ade, Du altes Würzburg! Nun, ade, zum letzten Mal! – Wie oft habe ich nun schon gesagt: „Nun, ade, zum letzten Mal!“ und immer bin ich wieder gekommen. Jetzt müßte es aber doch schon sehr sonderbar zugehen, wenn ich es das alte Nest noch mal wiedersehe d.h. längere Zeit darin bleiben sollte!– Und doch wird mir der Abschied in mancher Beziehung schwer! Wie außerordentlich viel verdanke ich ihm nicht! Hier bin ich zuerst Mensch, Mediciner, Naturforscher geworden, hier habe ich erst die köstlichsten Seiten unserer herrlichen Wissenschaft kennen und ergründen gelernt! Hier habe ich die besten Freunde und Lehrer gefunden, hier habe ich erst aus mir selbst heraus und in das Leben hinein treten lernen! Hab tausend Dank, Du altes Würzburg, nie werde ich Dir diese Verdienste vergessen, wenn Du mir auch dabei bittere und katzenjämmerliche Lehrstunden genug gegeben hast! –

Unsere Reiseaussichten werden übrigens, trotzdem uns unser lieber Beckmann leider nicht begleitet, in anderer Beziehung immer fröhlicher. Heute früh kam la Valette hier durch, welcher eigentlich nach Triest (natürlich auch um Seethiere zu beobachten) gehen wollte, nun aber auch die größte Lust hat, nach Nizza zu gehen. || Er sagte mir, daß Johannes Mueller, welcher gegenwärtig in Cette (nahe bei Montpellier, an der südfranzösischen Küste) fischt, ebenfalls den Plan hätte, später nach Nizza zu kommen. Das wäre nun doch wirklich ganz herrlich! Das wird mal eine ganz herrliche Reise werden! Nur jammerschade, daß ich mich unmöglich ordentlich dazu präpariren kann. Ich habe jetzt bei Virchows Abwesenheit so viel zu thun, täglich 2–3 Sectionen, außerdem eine Masse Schreibereien, in der Sammlung zu ordnen etc, daß ich zu gar Nichts Ordentlichem kommen kann. Kaum kann ich das Nothdürftigste über die Nizzaer Fauna etc nachlesen. Mit den Specialstudium wirds schlimm aussehn! Wegen der zerrissenen Kleider etc brauchst Du Dir, liebes Mutterchen, keine unnöthige Sorge zu machen. Ich bin auch in dieser Beziehung menschlicher geworden. Wo stecken denn wohl Weißens! Am Ende könnte ich die irgendwo in der Schweiz treffen! Das wäre nett! –

Euch selbst, liebste Eltern, geht es hoffentlich fortdauernd recht wohl. Haltet euch nur recht munter und gesund; die lieben Bonner grüßt mir aufs herzlichste. Wie gern wäre ich da mit euch Lieben Allen mal wieder am Alten Rhein! –

Schreibt mir recht bald und seid aufs herzlichste gegrüßt von eurem dankbaren, euch innigst liebenden alten Jungen Ernst.||

a gestr.: doch bin ich; b gestr.: es; c gestr.: meine

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
27.08.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 41464
ID
41464