Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 30. Dezember 1917

Jena 30.12.1917.

Lieber und hochverehrter Freund!

Seit Monaten habe ich Ihnen schreiben und für Ihre wertvollen Sendungen herzlich danken wollen. Allein meine mangelhafte Gesundheit, die stetig abnimmt, ließ mich nicht dazu kommen, den vielen Gedanken, die ich Ihnen mitteilen wollte, angemessenen Ausdruck zu geben. Das gilt namentlich von Ihren ausgezeichneten „Beiträgen zur Farbenlehre“, die ich – als enthusiastischer Freund der „Bunten und unbunten Farben, und ihrer Beziehungen zu den Formen, seit 70 Jahren – mit lebhaftesten Interesse und Nutzen gelesen habe. Nun ist schon wieder der Jahresschluß vor der Türe und ich muß mich beeilen, Ihnen und Ihrer lieben Familie meine herzlichsten Glückwünsche für das verschleierte „Friedensjahr“ 1918 zu senden, von dessen zahllosen politischen „Welträtseln“ Niemand sagen kann, wie sie vernunftgemäß zu lösen sind. ||

Die letzten 9 Monate war ich ganz überwiegend durch die Abfassung und den Druck meiner letzten naturphilosophischen Arbeit, den „Kristallseelen“ beschäftigt, welche mit vielen Schwierigkeiten verbunden war. Sie erinnern sich vielleicht unserer letzten Begegnung in Leipzig, als Sie Weihnacht 1915 die Güte hatten, mich im Hause meines Schwiegersohnes Hans Meyer aufzusuchen. Ich zeigte Ihnen damals beim Abschiede die wunderbaren kristallartigen Figuren meiner alten Lieblinge, der Radiolarien, mit deren monographischem Studium ich 60 Jahre lang, seit 1856, beschäftigt bin. Sie bewunderten ebenfalls die märchenhafte Mannichhaftigkeit dieser zierlichen Kieselgebilde, über deren wahre „Causae efficientes“ wir uns keine voll befriedigende Vorstellung machen können. ||

Der beiliegende „Biokristall“ von Lychnaspis miranda, den ich jetzt als typisches Symbol der rätselhaften „Molekularen Richtkräfte“ auf dem Umschlage meiner „Kristallseelen“ hervorgehoben habe, erschien uns besonders interessant, weil die tausende feine Nebenstacheln, die von den 20 Gitterplatten der gesetzmäßig geordneten radialen 20 Hauptstacheln (– Icosacanthen-Gesetz Seite 71, 75, 79 –) abgehen, parallel diesen letzteren gerichtet sind, nicht radial, wie man erwarten sollte! Diese „Molethynen“ und ihr „Moletropismus“ sind nach meiner Auffassung nur psychomatisch zu erklären, durch „Plastisches Distanzgefühl“ (1887). Es würde für mich höchst wertvoll sein, mich mit Ihnen über diese und andere wichtige Probleme der „Kristallseelen“ eingehend unterhalten zu können, und mich von Ihnen physikalisch belehren zu lassen. ||

Leider kann ich gar nicht mehr reisen, auch nicht nach Leipzig! Meine Kräfte nehmen seit einem Vierteljahr beständig ab, besonders die Herztätigkeit. Dazu ist noch die mangelhafte Ernährung sehr fühlbar, ebenso wie der Mangel an Kohlen etc.

Hoffentlich wird es Ihnen im Frühjahr möglich sein, mich noch einmal in Jena zu besuchen. Inzwischen würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir Ihr kritisches Urteil über die „Kristallseelen“ (– unbarmherzig! –) mitteilen und mich auf vorhandene (vielleicht schlimme?) Irrtümer aufmerksam machen wollten.

Mit besten monistischen Grüssen

stets Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.12.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signatur
1041, 50/47
ID
41447