Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 4. November 1917

Jena 4.11.17.

Lieber und verehrter Freund!

Seit Monaten bin ich im Begriff und verpflichtet, Ihnen für die freundliche Zusendung Ihrer wundervollen, so vielfach anregenden „Farben-Fibel“ zu danken. Sie kennen ja meine intensive Vorliebe für Farben und Formen; und wenn ich auch in Bezug auf malerische Talente, ganz besonders aber im physikalisch-mathematischem Verständnis der „unbunten und bunten Farben“ mich nicht mit Ihnen messen kann, so treibt mich doch die leidenschaftliche Dilettanten-Beschäftigung mit Landschafts-Malerei (– gerade jetzt im Alter von 83 Jahren! – und inmitten des Weltkriegs-Chaos immer wieder dazu, mich an dem unerschöpflichen Farben-Reichtum unserer Mutter Natur zu erfreuen und die „Klänge und allgemeinen Beziehungen der zusammengehörigen Farben“ (in ästhetischer und in psychologischer Beziehung) eingehend zu untersuchen. ||

Wenn ich 20 Jahre jünger und kräftiger wäre, und wenn nicht dringendere wissenschaftliche Aufgaben noch immer ungelöst vor mir lägen, so würde ich auch auf Ihren großen Farben-Atlas (in 25 Lieferungen) abonniert und mich in das tiefere Studium Ihrer neuen Farbenlehre eingelassen haben. Allein meine Gesundheit, die bis zum Frühjahr leidlich war, hat im Laufe des Sommers bedenklich abgenommen, wie Sie aus beiliegender gedruckter Postkarte vom 17. Juli ersehen. Die zunehmende „Altersschwäche“ mit Circulations-Störungen (Arteriosklerose, Herzschwäche, Schwindel, Untertemperatur u.s.w.) läßt mich täglich daran denken, daß ich diesen vierten (– grauenhaften! –) Kriegswinter wohl nicht „durchhalten“, sondern in die ersehnte „Nirvana“ wandern werde! ||

In den nächsten Tagen werden Sie durch Kröner meine letzte, so eben erschienene Arbeit „Kristallseelen“ erhalten, deren Vollendung (Anfang April begonnen) mich den ganzen Sommer beschäftigt hat. Sie erinnern sich vielleicht unserer letzten Begegnung in Leipzig (Weihnacht 1915), wo ich Ihren physikalischen Rat konsultierte, betreffs der wunderbaren kristallinischen und streng geometrischen Skelette meiner (seit 60 Jahren stetig studierten) Radiolarien. Die Figur 33 auf S. 75 der neuen Broschüre (Lychnaspis miranda) ist auf deren Umschlag als Charakterbild der „Biokristall“-Seele reproduziert, weil sie die rätselhaften „Molethynen“ — die „molekularen Richtkräfte“ auffallend zeigt, welche die Stellung der feinen „Beistacheln“ (parallel den 20 Hauptstacheln der Acantharie (nach dem „Icosacanthen“ Gesetz) deutlich zeigt! ||

Da das bunte „Quodlibet“ meiner armen „Kristallseelen“ die verschiedensten Gebiete berührt, auf denen ich auch nur „Dilettant“ bin, muß ich fürchten, daß sie viele Fehler enthält. Ich würde Ihnen daher sehr dankbar sein, wenn Sie – als berühmter „Virtuose“ in physikalischer Chemie und als „Nobelpreis“-Träger mich auf die Mängel der „Skizze“ aufmerksam machen und überhaupt scharfe Kritik an diesem letzten Essay üben würden.

Unser „Deutscher Monistenbund“, uma dessen Wachstum und Wirksamkeit Sie sich in den fünf Jahren Ihres Praesidiums so große Verdienste erworben haben, ist leider durch die Wirren des Weltkrieges dem „Scheintode“ verfallen, gleich hundert anderen Institutionen. Ich hoffe aber, daß er nach erlangtem „deutschen Frieden“ (Hindenburg!) neu aufleben und bleibende Früchte tragen wird.

Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen

Ihr alter Ernst Haeckel.

a korr. aus: für

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
04.11.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signatur
1041, 50/45
ID
41445