Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 10. Januar 1911

Jena 10.1.1911.

Hochverehrter Herr Kollege!

Durch Ihren Besuch am vorigen Sonnabend (7.1.) haben Sie mir eine große Freude bereitet und ich wiederhole zunächst meinen herzlichsten Dank für das große Opfer, welches Sie mir und unserer guten Sache mit der Reise nach Jena gebracht haben. Es war mir sehr wertvoll, die volle Übereinstimmung unserer allgemeinen Anschauungen in allen wesentlichen Punkten zu konstatiren und insbesondere über die großen Aufgaben unseres Monistenbundes (– theoretisch in der naturalistischen Weltanschauung, praktisch in der vernunftgemäßen Lebensführung –) mich mit Ihnen zu verständigen. Ich bin fest überzeugt, daß Sie durch die Übernahme des Präsidiums des Monistenbundes, die allseitig den lebhaftesten Beifall findet, unserer Sache den größten Dienst leisten.

Die beiden vortrefflichen „Sonntags-Predigten“, die Sie mir hier ließen, folgen anbei zurück; ich habe sie, ebenso wie die beiden ersten, mit lebhaften Interesse gelesen und finde namentlich die letzte: „Was ist Wahrheit“ ganz vorzüglich. Ich glaube, daß Sie durch die weitere Ausarbeitung solcher populärer Vorträge, ebenso wie durch Ihre weiteren, mir mitgeteilten Projekte neues Leben in die monistische Bewegung bringen werden. Die Zeit-Verhältnisse sind dafür sehr günstig, zumal unser Hauptgegner, der „Keplerbund“, seine prinzipielle Opposition jetzt sehr scharf hervorhebt. Morgen (Mittwoch) findet in München (wie Riesen-Plakate überall verkünden) eine große Protest-Versammlung des Keplerbundes statt mit dem Thema „Kampf gegen den Monismus“! ||

Was nun meine persönliche Mitarbeit an unseren großen Aufgaben betrifft, so muß ich Sie leider bitten, Ihre freundlichen, für mich sehr ehrenvollen Ansprüche in dieser Richtung sehr herabzusetzen. Ich habe die drei Tage Bedenk-Zeit, die seit Ihrem Besuche verflossen, benutzt, um mich selbst einer ernstlichen Prüfung zu unterziehen; das Ergebnis ist leider sehr unbefriedigend. Die letzten Jahre schon spüre ich eine starke Abnahme meiner Arbeitskraft, und mußte mit den wenigen kleinen Aufsätzen, zu denen ich mich aufraffte, sehr unzufrieden sein. Jetzt, wo ich am Abschlusse des 77. Lebensjahre stehe, fühle ich die Mängel des Greisenalters sehr empfindlich, besonders die Abnahme des Gedächtnisses, die Schwerfälligkeit des Ausdrucks, die Kampfes-Müdigkeit! –

Wenn ich noch zehn Jahre jünger und kräftiger wäre, würde ich Ihren ehrenvollen Antrag, mit Ihnen gemeinsam die „Monistischen Sonntags-Predigten“ herauszugeben, mit Freuden

angenommen haben; jetzt ist es „Zu spät“! –

Auch bezüglich der Mitarbeit an Ihren „Annalen der Naturphilosophie (– die ich im Auge behalten werde –) kann ich eine bestimmte Zusage nicht geben. Das Manuskript meiner unvollendeten Arbeit über „Naturalismus“ (1909 begonnen) habe ich gestern wieder angesehen und gefunden, daß einzelne, aus dem Zusammenhang genommene Kapitel sich zur Publikation nicht eignen. Zudem ist meine Gesundheit schwächer, als es den Anschein hat; in der Nacht nach Ihrem Besuch habe ich keinen Schlaf finden können! Fast 20 Jahre liegen zwischen Ihrem und meinem Alter; ein großer Unterschied.

Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen

Ihr Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.01.1911
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, NL Ostwald
Signatur
1041, 50/4
ID
41405