Jena 8 Decbr. 76
Hochgeehrter Herr!
Beifolgend erhalten Sie das Manuscript von Ludwig Noiré: „Aphorismen zur monistischen Philosophie“ zurück, um dessen Begutachtung Sie mich ersucht haben.
Obwohl ich das Manuscript aufmerksam gelesen, bedaure ich doch außer Stande zu sein, Ihren Wunsch zu erfüllen, denn die monistischen Grundauffassungen meines Freundes Noiré sind von den meinigen so verschieden, daß ich sie nicht klar zu verstehen und über ihren Werth zu urtheilen vermag. Die Grundbegriffe der „Bewegung“ und „Empfindung“ und ihre Beziehung zu „Raum“ und „Zeit“ – die originale Grundauffassung seiner Philosophie – faßt Herr Noiré in einem eigenthümlichen Sinn auf, der der heutigen Biologie fremd ist. || Es ist möglich, daß diese neue Auffassung, wie Herr Noiré fest glaubt, ein großer Fortschritt der Speculation ist – aber ich bin nicht im Stande, denselben zu verstehen, wie ich auch (– im Frühjahr diesen Jahres –) meinem Freunde offen gestanden habe.
Im Übrigen sind die „Aphorismen“ gut geschrieben, und es ist daher wohl möglich, daß sie, bei dem jetzigen Interesse weiterer Kreise für monistische Philosophie, Beifall finden werden.
Was Ihren Wunsch betrifft, eine Schrift von mir in Verlag zu nehmen, so bin ich gern bereit, denselben bei passender Gelegenheit zu erfüllen. Die Verbindung mit einer so geachteten und hochverdienten Verlagshandlung kann mir nur angenehm sein. || Jedoch gebe ich grundsätzlich in dieser Beziehung kein bestimmtes Versprechen ab. Gewöhnlich bin ich zu sehr mit verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten belastet, als daß ich die gewünschte Zeit und Muße fände, meiner Neigung entsprechend populär-wissenschaftliche Schriften für weitere Leser-Kreise abzufassen. Indessen würde ich gern bei gegebener Veranlassung Ihrem Verlags-Anerbieten vor vielen ähnlichen, wie in letzter Zeit gewordenen, den Vorzug geben.
Hochachtungsvoll
Ihr ergebener
Ernst Haeckel.