Ernst Haeckel an Charles Darwin, Jena, 10. August 1864

Jena 10 August 64.

Theurer hochverehrter Herr und Freund!

In diesem Briefe übersende ich Ihnen auf Ihren Wunsch meine Photographie, als eine geringe Gegengabe gegen das höchst erwünschte und werthvolle Geschenk, das Sie mir mit Ihrem eigenen Portrait gemacht haben. Ich kann Ihnen aber mein Bild nicht allein senden, sondern muss es begleiten lassen von dem Bilde der Frau, welche das Glück meines Lebens war, und welche für den Namen „Darwin“ eine eben so hohe Verehrung und Bewunderung hegte, als ich selbst. Nur 1½ Jahre war es mir vergönnt, mit dieser in jeder Hinsicht hochbegabten Frau in der glückseligsten Ehe zu leben. Am 16ten Februar dieses Jahres entriss sie mir ein typhöses Fieber in wenigen Stunden, an demselben Tage, an welchem ich mein 30stes Jahr vollendete. Mit der Klarheit des Verstandes und der Wärme der Empfindung welche nur den Frauen des germanischen Stammes eigen ist, theilte sie mit mir Alles, und ganz besonders meine Liebe zur Natur und zur Wahrheit. Für Ihre Descendenz-Theorie war sie so enthusiastisch eingenommen, dass sie mich stets zu deren Weiterbau anspornte und am liebsten und häufigsten mich selbst ihren deutschen „Darwin-Mann“ nannte. ||

Gewiss haben wenige Frauen mit so tiefem Verständniss sich für die grosse Frage des „struggle for life“ und der „natural selection“ interessirt, wie meine herrliche Anna, und dieser Umstand, theurer Freund, wird mich bei Ihnen entschuldigen, wenn ich Ihnen diese vertrauensvolle Mittheilung mache und Ihnen das Bild der viel zu früh Verstorbenen mit meinem eigenen sende. Sie können hiernach ermessen, wie schwer mich ihr Verlust niedergedrückt hat, und wie sehr düstere Melancholie an die Stelle meiner früheren heiteren Lebensfreude getreten ist. Diese tief melancholische Stimmung war in den letzten Wochen so schwer, dass ich Ihnen nicht sofort auf Ihren mir höchst werthvollen und freundschaftlichen Brief zu antworten vermochte. Auch an der Ausarbeitung des Werkes über die Descendenz-Theorie, von dem ich Ihnen neulich schrieb, bin ich dadurch sehr gehindert worden und werde erst im nächsten Winter dasselbe wieder frisch in Angriff nehmen können. Jetzt gehe ich zunächst auf 6–8 Wochen in die Schweiz, um in dem Genusse der grossen Alpen-Natur meine physischen und moralischen Kräfte wieder zu sammeln und zu stärken. Die Alpen und das Meer waren von jeher die beiden Factoren, die am mächtigsten auf mich einwirkten. ||

Die persönlichen Mittheilungen, we[lche] Sie mir in Ihrem letzten Briefe gemac[ht] haben, mussten mich natürlich im höchsten Grade interessiren und ich sage Ihnen den herzlichsten Dank für das mir dadurch bewiesene Vertrauen. Einiges davon habe ich auch meinen Freunden Gegenbaur und Schleicher mitgetheilt, welche mit mir den lebhaften Wunsch hegen, dass bald genauere biographische Mittheilungen über a den Gang Ihres Lebens und Ihrer Studien bekannt werden möchten. Wie jedes Ding, so wird ja auch der Mensch erst richtig und vollständig durch seine Entwickelungsgeschichte begriffen.

Auch die Geschichte der Descendenz-Theorie ist in hohem Grade interessant und ich sehe mit grosser Freude, wie die grössten deutschen Phi[loso]phen und Denker schon vor langer Zeit diesel[be] a priori als die einzigbmögliche Art, die Entstehung der Arten zu begreifen, erklärt haben. Aber Sie haben erst durch die epochemachende Entdeckung der „Natural Selection“ und des „Struggle for life“ den concretenBeweis für jene abstracte Behauptung geliefert. Am schönsten hat sich unser grösster Dichter, Göthe, überc letzered ausgesprochen in seinen Aufsätzen zur Morphologie, und ganz besonders in dem [!] kurz vor seinem Tode geschriebenen Kritik der „Principes de Philosophie zoologique“ von Geoffroy. In der trefflichen Biographie || Göthes von Ihrem Landsmanne Lewes finde ich diese Verdienste Göthes (in dem 10. Abschnitt des V Buches „Göthe als Naturforscher“) sehr schön beurtheilt. Ebenso bestimmt hat auch unser grösster Philosoph, Kant, sich für die „Theorie der Epigenesis“, wie er sie nennt ausgesprochen. Auch werden in der That alle möglichen organischen Natur-Erscheinungen, ebenso im thierischen, wie im pflanzlichen Leben, so einfach und harmonisch dadurch erklärt, dass ich nicht begreife, wie so viele und kenntnissreiche Naturforscher noch Ihre Gegner sein können. Wie sehr aber selbst berühmte Gelehrte in dieser Beziehung irren können und wie sehr die exclusive Bewegung in Detail-Arbeiten den Blick für die grosse Harmonie des Natur-Ganzen abstumpft, können Sie aus dem ausserordent[li]ch schwachen, verkehrten und unlogischen Aufsatze ersehen, den kürzlich Professor Kölliker in Würzburg, als Histiolog weit bekannt, in seiner Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie veröffentlicht hat. Selten habe ich etwas Schwächeres und Verkehrteres über Ihre Theorie gelesen. Sie sollen sogar „Teleolog“ sein!! Sie werden sich darüber trösten. Aber zur Ehre der Deutschen muss ich doch sagen, dass solche Verkehrtheiten bei den Meisten doch nur der wohlverdienten Missachtung begegnen. –

Indem ich Ihnen, theurer Herr, nochmals den lebhaftesten Dank für Ihren mir sehr werthen Brief ausspreche, und hoffe, dass Ihre Gesundheit sich bald bessert, bleibe ich mit vorzüglicher Verehrung

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel

a gestr.: Ihr; b korr. aus: einizige; c korr. aus: darüber; d eingef.: letztere

Brief Metadaten

ID
40949
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
10.08.1864
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
Cambridge University Library
Signatur
DAR 166: 38
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Darwin, Charles; Jena; 10.08.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_40949